Ukrainische Soldaten«Es war ein Irrenhaus – es war Tschetschenien»
Nur etwa ein Drittel der ukrainischen Soldaten schaffte den Rückzug aus Debalzewo. Sie erzählen vom Horror, den sie beim Kampf um die Stadt erlebten.
Drei Tage lang harrten sie unter schwerem Granatenbeschuss aus, bis Debalzewo nicht mehr zu halten war. In der Nacht auf Mittwoch erhielten die 8000 ukrainischen Soldaten, die den Eisenbahnknotenpunkt zwischen Donetzk und Luhansk verteidigen sollten, den Befehl zum Rückzug.
Westliche Medien konnten mitverfolgen, wie die übermüdeten und ausgehungerten Soldaten teils in Konvois, teils zu Fuss auf der ukrainischen Seite der Front in der Stadt Artemiwsk ankamen. 80 Prozent hätten Debalzewo verlassen, sagte Präsident Petro Poroschenko. Das Staatsoberhaupt der Ukraine flog am Mittwoch in die Nähe der Stadt, um die Truppen zu empfangen und Orden zu verteilen. Der Rückzug sei «geplant und organisiert gewesen», sagte er zu den Medien.
«Viele fuhren los, ein paar kamen an»
Doch ein Bericht in der «New York Times» lässt auf das Gegenteil schliessen. «Viele Lastwagen fuhren los, aber nur ein paar kamen an», sagte ein Feldweibel mit Namen Volodomyr. Auf dem Trottoir kniend und rauchend sagte er: «Ein Drittel von uns hat es geschafft – höchstens.»
Soldaten erzählten, sie hätten nur zehn Minuten Zeit gehabt, sich abfahrbereit zu machen und die Lastwagen zu besteigen. Um die verminten Strassen zu umgehen, habe man eine Route durch die Felder gewählt. Doch schon bald seien die Laster stecken geblieben oder zusammengestossen, berichten die Soldaten. Gleichzeitig sei die Kolonne unter heftiges Feuer genommen worden.
«Kurz nach der Feuerpause geschah Schreckliches»
Tote und verwundete Soldaten mussten auf dem verschneiten Feld zurückgelassen werden, weil man nicht alle habe tragen können, erzählen die Männer. «Wir stabilisierten sie, banden ihre Glieder ab, gaben ihnen Schmerzmittel und platzierten sie an besser geschützte Orte», sagte der Sanitäter Albert Sardaryen zu der Zeitung. «Einer hatte die Hand verloren», erzählte der Sanitäter dem «Guardian»: «Ich konnte nur sein Blut stoppen und ihn in eine bequeme Position setzen. Ich hoffte, dass ihn die gepanzerten Fahrzeuge mitnehmen würden, die uns folgten.» Was aus ihm geworden ist, weiss er nicht. Reuters berichtet, nach offiziellen Angaben seien in den letzten paar Tagen in Debalzewo 22 ukrainische Soldaten getötet und über 150 verwundet worden.
Es gebe keine Stadt mehr, Debalzewo sei zerstört, sagte ein Soldat zum «Guardian»: «Zwei Stunden nach der Feuerpause geschahen schreckliche Dinge. Einwohner steckten in Kellern fest. Viele Tote wurden einfach liegen gelassen, weil die Separatisten unentwegt auf alle schossen.» Ein anderer pflichtete ihm bei: «Es war ein Irrenhaus. Es war Tschetschenien», sagte er und bezog sich auf die blutigen Kämpfe in der russischen Teilrepublik.
Drohnen-Aufnahmen zeigen das zerstörte Debalzewo
Diese Aufnahmen entstanden zwischen dem 11. und dem 15. Februar
«Hundertmal mit dem Leben abgeschlossen»
Die ukrainische Regierung hatte im Vorfeld gesagt, ihre Streitkräfte in Debalzewo seien nicht eingekesselt. Doch Soldaten, die den Rückzug geschafft haben, erzählen etwas anderes. Die andauernden Schüsse und Minen hätten die Versorgungswege abgeschnitten. Die Truppen seien von jeglichem Nachschub abgeschnitten gewesen.
Beobachter meinten, der Verlust von Debalzewo sei ein grosser Rückschlag für das ukrainische Militär. Die Soldaten in Artemiwsk waren froh, überlebt zu haben. «Wir sind sehr glücklich, hier zu sein», sagte einer zur AP. «Wir haben die ganze Zeit gebetet und hundertmal mit dem Leben abgeschlossen.»