Kapitale der Kapitalverbrechen500 Morde in neun Monaten in Chicago
In Amerikas drittgrösster Stadt gab es die schlimmste Mordwelle seit 20 Jahren. In Chicago wurden mehr Amerikaner getötet als in Afghanistan.
- von
- sut
Al Capone ist längst tot. Doch in Chicago fliesst das Blut, als triebe der legendäre Mafiaboss noch immer sein Unwesen. Am vergangenen Labor-Day-Wochenende überschritt die Zahl der Toten in Amerikas drittgrösster Stadt die traurige Grenze von 500. Allein zwischen Samstag und Dienstag früh starben durch Gewalt auf ihren Strassen 35 Menschen, wie die «Chicago Tribune» zählte. Auf insgesamt 65 Menschen wurde mit Feuerwaffen geschossen.
Eines der Schussopfer war die im neunten Monat schwangere Crystal Myer. Sie wurde durch einen Schuss in den Bauch an einer Strassenecke verwundet, wo zwanzig Stunden vorher jemand getötet worden war. Anderswo wurde laut «Tribune» ein pensionierter Pastor erschossen.
Mehr als in New York und Los Angeles zusammen
Die Gewaltstatistik ist furchterregend. Seit Jahresbeginn starben 512 Menschen in Chicago. Allein im August verloren 90 Menschen das Leben. Diese Zahl wurde zuletzt 1996 erreicht. Im Vergleich: In New York und Los Angeles, den zwei grössten US-Städten, wurden dieses Jahr bisher 409 Menschen getötet – zusammengezählt.
Ein weiterer Vergleich gibt noch mehr zu denken: Wie die Radiotalkerin Tammy Bruce vorrechnet, starben im Afghanistankrieg zwischen 2001 und August 2016 insgesamt 2384 Amerikanerinnen und Amerikaner. Doch in Chicago wurden allein seit dem Beginn von Barack Obamas Amtszeit im Januar 2009 über 3680 Menschen getötet.
Verteilpunkt für mexikanische Kartelle
Die Gewalt in Chicago geht – wie zu Al Capones Zeiten – auf Gangs zurück. Bruce zitiert eine Analyse des «Police Magazine»: «Mexikanische Drogenhandelsorganisationen und Banden aus Los Angeles haben sich in Chicago und seinen Vororten eingerichtet. MS-13, Crips, Bloods und Surenos haben eine Basis in der Region, und Chicago ist ein wichtiger Verteilpunkt für die mexikanischen Kartelle.»
Die konservative Radiofrau verweist auf die Durchlässigkeit der Grenze zu Mexiko, über die nach ihrer Darstellung viele Drogendealer illegal einreisten. Andere Kritiker zeigen mit dem Finger auf die zunehmend passive Polizei in Chicago im Nachgang der Krawalle im Zusammenhang mit Polizeibrutalität. Die Zurückhaltung der Cops wird nach der Tötung von Michael Brown in einem Vorort von St. Louis «Ferguson-Effekt» genannt.
Zahlen belegen die These
Eine kenntnisreiche Verfechterin dieser Erklärung ist die Buchautorin Heather MacDonald. Im «City Journal» schrieb sie diesen Sommer: «Das wachsende Chaos ist das Ergebnis des Rückzugs der Polizisten in Chicago von proaktiver Polizeiarbeit. Das macht die Stadt zu einem dramatischen Beispiel für den Ferguson-Effekt.» MacDonald untermauert ihre Analyse mit reichem Zahlenmaterial. Und sie illustriert sie mit traurigen Belegen, etwa von Felicia Moore. Die Frau im mittleren Alter mit Tätowierungen im Gesicht sagt: «Ich habe mein ganzes Leben in Chicago gelebt. So schlimm wie jetzt war es noch nie.»
Eine Abhilfe gegen die Mordwelle ist schwer zu finden. Vor zwei Wochen unterzeichnete Gouverneur Bruce Rauner ein Gesetz gegen die Einfuhr von Schusswaffen. Wer ohne Waffenschein Feuerwaffen nach Illinois bringt, wird jetzt mit Gefängnisstrafen von vier bis 20 Jahren bestraft, im Wiederholungsfall bis 30 Jahre. Das Gesetz wurde nötig, weil Illinois bereits scharfe Waffengesetze kennt.
Die BBC hat die Gewalt in Chicago in einem Dokumentarfilm thematisiert: