Negative TeuerungAHV-Renten könnten 2017 erstmals sinken
Eine bisher unveröffentlichte Analyse zeigt: Den Pensionierten droht eine Kürzung der Renten. Eine Senkung hätte auch Auswirkung aufs Einzahlen in die Säule 3a.
- von
- S. Spaeth
2350 Franken beträgt derzeit die maximale AHV-Rente für eine Einzelperson pro Monat. Und nun droht dieser Betrag noch kleiner zu werden, wie eine noch unveröffentlichte Hochrechnung der Migros Bank zeigt. Eine Reduktion wäre ein Novum für die Schweiz, denn seit der Einführung der AHV im Jahr 1948 sind die Renten wegen der Teuerung immer gestiegen.
Die Höhen der AHV-Renten werden alle zwei Jahre festgesetzt. Dass nun erstmals eine Kürzung des Maximalbetrags um zehn auf 2340 Franken droht, liegt am sogenannten Mischindex. Dieses 1980 eingeführte Instrument bildet die Basis für die Berechnung und stellt je zur Hälfte auf die Teuerung und die Lohnentwicklung ab. «Rein rechnerisch ist es klar. Selbst bei optimistischen Annahmen müsste der Index zu einer Reduktion der AHV-Renten führen», sagt Migros-Bank-Ökonom Albert Steck, der für Markt- und Produkteanalyse zuständig ist. Im letzten Jahr betrug die Teuerung minus 1,1 Prozent, in diesem Jahr veranschlagen die Statistiker des Bundes ein Minus von 0,6 Prozent.
Mit den AHV-Renten würden ausserdem die Leistungen in der zweiten und dritten Säule kleiner, denn diese sind unmittelbar daran gekoppelt, heisst es bei der Migros Bank. Experte Steck spricht von einem Dominoeffekt. Konkret müsste zum Beispiel der maximal versicherte Lohn im obligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge (BVG) gesenkt werden. Ebenso der maximal zulässige Betrag für Einzahlungen in die Säule 3a.
Bundesratsentscheid beeinflusst Abstimmung
Ob die AHV-Renten tatsächlich sinken, entscheidet im kommenden Sommer der Bundesrat nach Anhörung der AHV-Kommission. Diesem 20-köpfigen Expertengremium gehören Vertreter der Versicherungswirtschaft, der Versicherten sowie des Bundes an. «Die Kommission macht den Vorschlag. Sie ist aber an den Mischindex gebunden», sagt Doris Bianchi vom Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), die auch Mitglied der AHV-Kommission ist. Der Bundesrat hat laut Bianchi aber die Kompetenz, das Verhältnis des Mischindexes zu ändern und die Lohnentwicklung stärker zu gewichten – was er aber noch nie gemacht hat.
Die drohende AHV-Reduktion kommt für den Bundesrat in einem politisch heiklen Moment. Der Grund: Ende September kommt die «AHVplus»-Initiative vors Volk. Sie hat das Ziel, die AHV-Renten generell um 10 Prozent zu erhöhen. Dies, weil die Pensionskassenrenten aufgrund von Zinsniveau und Finanzmarktkrise laut den Initianten in Zukunft immer tiefer ausfallen werden.
AHV-Kasse würde um 200 Millionen entlastet
«Mit einer Senkung der Rente dürfte der Bundesrat die Zustimmung zur ‹AHVplus›-Initiative beeinflussen», sagt Migros-Bank-Ökonom Steck. «Die AHV ist für die meisten Schweizer eine heilige Kuh.» Beim SGB geht man darum davon aus, dass der Bundesrat die Renten nicht reduziert: «Eine Kürzung würde den Besitzstand unterlaufen und zu heftigsten Protesten führen. Nur Griechenland oder weitere Staaten in akuter Geldnot treffen so drastische Entscheidungen», sagt Bianchi.
Würde sich der Bundesrat für die Rentensenkung entscheiden, könnte er viel Geld sparen. Pro Person und Jahr würde die defizitäre AHV-Kasse zwar nur 60 und 120 Franken weniger auszahlen. Hochgerechnet auf alle Versicherten würde die AHV-Kasse laut Berechnungen der Migros Bank allerdings um gut 200 Millionen Franken jährlich entlastet.
Milliarden zu viel ausbezahlt?
Seit 2007 ist die Inflation stets tiefer ausgefallen, als bei der Rentenberechnung vorausgesagt wurde. Damit aber lag die AHV-Rente über demjenigen Betrag, der gemäss Mischindex erforderlich gewesen wäre. Die Migros Bank kommt für die letzten zehn Jahre auf eine zu viel ausbezahlte Summe von insgesamt 2,1 Milliarden Franken. Am grössten war die Differenz in den Jahren 2013 und 2014. Die maximale Monatsrente wurde damals auf 2340 Franken erhöht. Die gemäss Mischindex korrekte Rente lag allerdings bei 2323 Franken im Monat. Das führte laut Berechnungen, welche die Migros Bank auf ihrem Blog veröffentlicht hat, pro Jahr zu Mehrausgaben von 330 Millionen.
«Laufende Renten werde nicht gekürzt»
Die Gefahr, dass die Renten gekürzt werden, erachtet Jürg Brechbühl, Direktor des Bundesamt für Sozialversicherungen, als gering. «Es gibt den Grundsatz, dass laufende Renten nicht gekürzt werden», sagt Brechbühl zu 20 Minuten. Der Mischindex sei eine im Gesetz verankerte mathematische Formel. Ihr Resultat ist laut Brechbühl sowohl für die AHV/IV-Kommission als auch für den Bundesrat verbindlich. «Es gibt nur einen minimalen Entscheidungsspielraum», und politische Gründen dürften weder für die Kommission noch für den Bundesrat eine Rolle spielen. Dass es an der Zeit wäre, den Mischindex anzupassen, verneint Brechbühl: «Der Mischindex verleiht der AHV Stabilität.» (sas)

Frau Bianchi*, wie würde der Gewerkschaftsbund (SGB) auf eine AHV-Kürzung reagieren?
Die Kürzung von laufenden AHV-Renten wäre ein Affront auf unser Rentensystem und würde von uns bekämpft werden. Unsere Initiative AHVplus würde in einem solchen Kontext als Lösung für die Rentenkürzung stehen.
Warum braucht es trotz sinkender Teuerung höhere Renten?
Weil die Renten auch mit den Löhnen Schritt halten müssen. Heute deckt die AHV Rente beim Renteneintritt einen immer kleineren Teil des letzten Lohnes ab.
Ist es an der Zeit, den Mischindex zu ändern?
Der Mischindex ist ein sinnvoller Mechanismus für die Anpassung der laufenden Renten, aber er führt dazu, dass die Neurenten zu stark den Löhnen hinterherhinken. Denn die Lohnentwicklung wird bei den Renten nur zur Hälfte abgegolten. Daher braucht es periodische Anpassungen der AHV-Renten, so wie es unsere Initiative AHVplus verlangt. (sas)
*Doris Bianchi ist Spezialistin für Sozialversicherungen beim SGB.