Wissenschaft des HeftlisAlles nur Schund? Oder doch Literatur?
Die Wissenschaft wollte sich lange nicht mit dem Groschenroman beschäftigen. Nun zeigen neue Untersuchungen, dass Kioskromane viel über die Gesellschaft aussagen – Teil 6 der Sommerserie.
- von
- Senta Keller
Jahrelang haben Wissenschaftler beim Thema Groschenroman die Nase gerümpft. Mit den als Schundliteratur verschrienen Heftchen wollte niemand etwas zu tun haben. Das hat sich erst in den 1950er Jahren geändert.
Heftromane gelten gemeinhin als Trivialliteratur – also literarisch nicht unbedingt wertvolle Schriften. In der Schweiz beschäftigt sich daher bezeichnenderweise auch nicht die Literaturwissenschaft mit dem Thema sondern das Institut für populäre Kulturen. «Anfangs hat man in der Wissenschaft die Groschenromane belächelt», erzählt Brigitte Frizzoni, Dozentin für populäre Literaturen und Medien am Institut für populäre Kulturen der Universität Zürich. Doch das habe sich inzwischen geändert.
Endlich befriedigenden Sex für Frauen
Keine Frage – die Sprache ist simpel, die Geschichte ebenfalls. Doch die Romane sind erfolgreich und damit ein Spiegel der Gesellschaft, so Frizzoni: «Wenn etwas populär ist, muss es für viele relevant sein. Das ist für ein Abbild der Gesellschaft interessant. Der erotische Roman, der in den 80er Jahren aufgekommen ist, ist zum Beispiel undenkbar ohne Frauenbewegung.»
Man habe sich zwar in der feministischen Literaturwissenschaft darüber gestritten, ob der erotische Liebesroman der Frauenbewegung zuträglich sei oder nicht. «Die einen haben kritisiert, dass das klassische Geschlechterbild reproduziert werde. Der Wunsch nach absoluter Verschmelzung des Liebespaars. Andere fanden, es seien die ersten Bücher, in denen Frauen für Frauen über weibliche Sexualität schreiben, und das sei positiv.»
Beide mögen Horrorromane und Krimis
Inzwischen wurde erforscht, wer diese Art von Romanen liest. «Früher dachte man, es seien nur niedere Schichten. Aber Kioskromane sind ein schichtenübergreifendes Phänomen», sagt Frizzoni. Alle Altersklassen sowie alle Berufsgattungen würden die Bücher konsumieren. 40 Prozent der Leser haben gar eine höhere Schulbildung. «Ich weiss von Studierenden, die Kioskromane gerne als Badewannen-Lektüre geniessen.» Unterschiede gibt es einzig bei den Geschlechtern: Männer lesen Science-Fiction-Romane und Western. Frauen mögen Heimat, Liebes- und Arztromane. Mit Horrorromanen und Krimis können sich beide Geschlechter anfreunden.
Lange befürchtete man, die Leser würden durch die Romane beeinflusst und nähmen die propagierte Lebensform kritiklos hin. «Kioskromane wurden gar als Opium fürs Volk bezeichnet.» Aus wissenschaftlicher Perspektive weiss man inzwischen, dass nicht Medien oder eben Heftromane bestimmen, wie ein Text aufgenommen wird. «Das Lesen ist zudem immer ein kreativer Akt. Man kann sich amüsieren, geniessen, aber den Text auch kritisch reflektieren. Die meisten Leser haben eine hohe Genre-Kompetenz und wissen, was sie beim Lesen erwartet.»
Hohe Literatur? Oder doch nicht?
Auch wenn es Qualitätsunterschiede gibt, muss man laut Frizzoni bei der Unterscheidung zwischen höherer und niederer Literatur aufpassen: «Es gibt ja nicht nur eine Literatur.» Ein Dozent der Literaturwissenschaften habe an der Uni Zürich mal Passagen aus Romanen von so genannt höherer Literatur neben solche gelegt, die aus Groschenromanen stammen. «Es war für die Studierenden gar nicht so einfach, die Textstellen den einzelnen Autoren zuzuordnen.»
Schwierig an der Erforschung von Groschenromanen ist, dass die Heftchen nicht gesammelt wurden, da sie als wertlose Literatur galten. «Um das Thema aufzuarbeiten, musste man anfangs Leseraufrufe über Zeitungen machen. So konnte man mit der Zeit eine Sammlung anlegen. Aber einfach ist es bis heute nicht, an bestimmte Romane heranzukommen.»
Die Heftromane werden weiter leben
Frizzoni hofft, dass das Phänomen künftig fächerübergreifend behandelt wird. «Anglisten haben sich stets weniger schwer getan, Unterhaltungsliteratur zu erforschen. Ich gehe davon aus, dass man im deutschsprachigen Raum die Angst vor populärer Wissenschaft verliert. Eine Aufweichung der Grenzen findet bereits statt.»
Lohnen würde sich das heute nach wie vor. Frizzoni rechnet nämlich nicht damit, dass Groschenromane so rasch von der Bildfläche verschwinden werden. «Vielleicht werden künftig mehr eBooks verkauft. Aber das Format hat sich schon so lange bewährt, dass ich davon ausgehe, dass es die Heftromane auch in 10 Jahren noch geben wird.»
Sommerserie: Kioskroman
Kioskromane gelten als Trivialliteratur: Die Sprache ist einfach, der Plot immer gleich, das Happy End garantiert. Trotzdem sind Groschenromane seit vielen Jahren erfolgreich. In einer Sommerserie untersuchen wir dieser Form der Literatur, finden ihren Ursprung, treffen ihre Autoren und lernen ihre Regeln. Es folgt ein mehrteiliger Romantikroman, bei dem Sie entscheiden, wie die Geschichte weitergeht. Entschieden haben Sie bereits jetzt, wo sich die Protagonisten zum ersten Mal treffen sollen: Mit 46 Prozent hat es die Blockhütte am See geschafft, vor der der Held Holz hackt. Auch der Handlungsort ist bestimmt: 58 Prozent waren für das Intern@t für höhere Töchter im Tessin. Die Hauptprotagonisten werden - wie 46 Prozent der Leser es wollten, Lindsay und Adrian heissen. Stimmen Sie jetzt darüber ab, wie der Roman heissen soll.
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