LINSMAYER LIEST: Ankommen, um zu bleiben

Der bekannte Schweizer Literaturkritiker Charles Linsmayer rezensiert für 20 Minuten regelmässig Neuerscheinungen und Klassiker.

Der bekannte Schweizer Literaturkritiker Charles Linsmayer rezensiert für 20 Minuten regelmässig Neuerscheinungen und Klassiker.

20min/Ela Çelik
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Linsmayer liestAnkommen, um zu bleiben

In seiner Literaturkolumne rezensiert Charles Linsmayer für 20 Minuten Neuerscheinungen und Klassiker. Dieses Mal: «Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji.

Charles Linsmayer
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Charles Linsmayer

«S’Lied vo de Lüt wo’s Läbe lang uf em Perron stönd,/ will’s sich nöd entscheided, obs bliibed oder gönd» gehörte lange zum Repertoire, mit dem die 1968 im serbischen Becsej geborene Melinda Nadj Abonji und ihr Partner Roland Jurczok auf Tournee gingen. 2010 hat die 1973 in die Schweiz eingewanderte Tochter Ungarisch sprechender Immigranten den deutschen und den Schweizer Buchpreis mit einem Roman gewonnen, der am Beispiel der mit ihr eng verwandten Romanfigur Ildiko und deren Schwester Nomi vorführt, wie für die zweite Generation Immigranten im Gegensatz zur ersten das Zurückgehen keine Option mehr ist, sondern einem selbstbewussten, zur neuen Heimat kritisch eingestellten und doch lustvoll-freudigen Dableiben gewichen ist.

Melinda Nadj Abonji: «Tauben fliegen auf», dtv-Taschenbuch, Fr. 17.90 bei Orell Füssli.

Melinda Nadj Abonji: «Tauben fliegen auf», dtv-Taschenbuch, Fr. 17.90 bei Orell Füssli.

orellfuessli.ch

«Tauben fliegen auf» heisst der durchaus optimistisch gestimmte, in wunderbar lebendiger Sprache geschriebene Roman, der zeigt, wie sich eine Seconda nicht nur die Sprache und die Lebensweise ihrer Schweizer Altersgenossen aneignet und wie sie sich die Unabhängigkeit vom Elternhaus erkämpft, ohne dass ihre liebevolle Beziehung zu Vater und Mutter, zur Grossmutter Mamika, zum verträumten «Flüchter» Dalibor und zur in der Vojvodina gebliebenen Halbschwester Janka dadurch Schaden nähme. Wie eine Taube sieht sie sich, zwar von menschlichen Schritten aufgescheucht, aber von der Erkenntnis beflügelt: «Vielleicht kann man an einem Tag beschliessen, anders zu werden, und dann kommt der nächste Tag, und man merkt, wie spielend leicht es geht!» 

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