
Was tun, wenn hinter mir einer drängelt? Was darf ich und was ist verboten?
Dichtes AuffahrenDarf ich einen Drängler einbremsen?
Nahes Auffahren ist brandgefährlich, aber wie reagiert man korrekt auf einen Drängler? Und was passiert, wenn du dich zu einer Reaktion hinreissen lässt? Hier gibts die Antworten.
- von
- Olivia Solari, AGVS
Frage von Niklaus ans AGVS-Expertenteam:
Ich habe eine Folgefrage zum Ratgeber «Zu nahes Auffahren». Normalerweise bleibe ich ruhig, selbst bei einem Drängler, und fahre weiterhin die erlaubte Geschwindigkeit. Einmal habe ich mich allerdings dazu hinreissen lassen, die Bremse kurz anzutippen, worauf es hinter mir stark quietschte. Zu einem Zusammenstoss kam es nicht, habe ich mich damit trotzdem strafbar gemacht?
Antwort:
Lieber Niklaus,
Wie im erwähnten Ratgeber dargelegt, verhält sich der Drängler bzw. das nachfolgende Fahrzeug nicht rechtmässig und macht sich infolge des zu nahen Auffahrens strafbar. Dies ergibt sich aus Art. 34 Abs. 4 Strassenverkehrsgesetz (SVG), wonach grundsätzlich der nachfolgende Lenker gegenüber dem voranfahrenden Fahrzeug einen ausreichenden Abstand zu wahren hat. Er muss insbesondere auch bei überraschendem Bremsen des voranfahrenden Fahrzeugs rechtzeitig anhalten können, Art. 12 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung (VRV).
Nur weil sich ein Strassenbenützer nicht an die Verkehrsregeln hält, bedeutet dies jedoch keinen Freifahrtschein für die anderen Fahrzeuglenker. Nach Art. 37 Abs. 1 SVG muss ein voranfahrender Fahrzeugführer «nach Möglichkeit» Rücksicht auf die nachfolgenden Fahrzeuge nehmen. Die Pflicht zur Rücksicht auf nachfolgende Fahrzeuge findet ihre Grenze jedoch an den Notwendigkeiten des Verkehrsgeschehens. Wer aufgrund eines plötzlich auftretenden Hindernisses oder der Verkehrsregelung abbremsen muss, wird kaum noch auf den nachfolgenden Fahrzeuglenker Rücksicht nehmen können.
Nur weil sich ein Strassenbenützer nicht an die Verkehrsregeln hält, bedeutet dies jedoch keinen Freifahrtschein für die anderen Fahrzeuglenker.
Im Einklang mit dieser Regelung statuiert Art. 12 Abs. 2 der Verkehrsregelverordnung (VRV) für Fahrzeuglenker ein Verbot für «brüskes» Bremsen und Halten, sofern dahinter ein Fahrzeug folgt und keine Notfallsituation vorliegt. Unter einem unzulässigen brüsken Bremsen verstehen die Gerichte eine scharfe, plötzliche Verzögerung des eigenen Fahrzeugs. Das Bundesgericht hat in seiner neueren Rechtsprechung den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 2 VRV auf Situationen ausgedehnt, in denen etwa auf der Autobahn nur geringfügig abgebremst wurde. Je höher nämlich die gefahrene Geschwindigkeit und je knapper der Abstand zwischen den Fahrzeugen, umso gefährlicher kann auch das geringfügige Bremsen für die nachfolgenden Verkehrsteilnehmer sein. Aufgrund dieses Gefahrenpotentials gehen die Richter in Lausanne davon aus, dass i.S.v. Art. 12 Abs. 2 VRV brüsk bremst, wer – wenn ein anderes Fahrzeug folgt – auf Autobahnen sein Fahrzeug durch Bremsen mehr als nur unwesentlich verzögert.
Ein brüskes Anhalten oder Bremsen ohne einen Notfall mit dem Zweck der Schikane ist in keinem Fall zulässig.
Ein brüskes Anhalten oder Bremsen ohne einen Notfall mit dem Zweck der Schikane, wie dem Erteilen einer Lektion oder des Erziehens eines anderen Verkehrsteilnehmers, ist in keinem Fall zulässig und kann eine grobe Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Abs. 2 SVG darstellen, da damit eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer hervorgerufen wird. In krassen Fällen (insb. bei sog. Schikanestops oder bei hohen Geschwindigkeiten auf der Autobahn) kann das grundlose brüske Abbremsen sogar die strafrechtlichen Tatbestände der Nötigung oder der Gefährdung des Lebens nach Art. 181 bzw. Art. 129 Strafgesetzbuch (StGB) erfüllen.
Um auf Deine Frage zurückzukommen: Die Strafbarkeit eines solchen Bremsmanövers beurteilt sich jeweils anhand der konkreten Umstände. Da der Fahrzeuglenker hinter dir stark abbremsen musste, gehe ich davon aus, dass der Tatbestand des brüsken Bremsens nach Art. 12 Abs. 2 VRV erfüllt war. Da du das Manöver ohne ersichtlichen (rechtmässigen) Grund ausgeführt hast, hast Du Dich mindestens einer einfachen Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Abs. 1 SVG strafbar gemacht. Bei höheren Geschwindigkeiten erfüllt dein Verhalten, wie erwähnt, ohne Weiteres auch eine grobe Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Abs. 2 SVG oder in Ausnahmefällen sogar weitere strafrechtliche Tatbestände.
Ich rate Dir daher in aller Deutlichkeit davon ab, nochmals ein solches Bremsmanöver auszuführen. Auch wenn der nachfolgende Fahrzeuglenker (ebenfalls) im Unrecht ist, heisst es, in solchen Situationen schlicht ruhig zu bleiben und sich nicht provozieren zu lassen.
Ich wünsche Dir eine gute Fahrt!
Gute Fahrt!
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