Das Sozialexperiment, das als «Sex-Floss» berühmt wurde

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Acali-ExpeditionDas bizarre Sozialexperiment, das als «Sex-Floss» in die Geschichte einging

Warum kämpfen Menschen gegeneinander? Das wollte der Anthropologe Santiago Genovés auf einem Floss mitten auf dem Atlantik klären. Doch statt wie erhofft Streit unter den Teilnehmenden auszulösen, richtete sich deren Wut gegen ihn selbst.

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Im Sommer 1973 bezogen zehn Männer und Frauen ein Floss, von dem es für drei Monate kein Entkommen geben sollte. (Im Bild: Screenshot aus Trailer von «The Raft», 2018)

Im Sommer 1973 bezogen zehn Männer und Frauen ein Floss, von dem es für drei Monate kein Entkommen geben sollte. (Im Bild: Screenshot aus Trailer von «The Raft», 2018)

Xenix Filmdistribution
101 Tage schipperten die Truppe über den Atlantik: Los ging es am 12. Mai 1973 in Gran Canaria. Das Ziel lag in Mexiko. (Im Bild: Screenshot aus Trailer von «The Raft», 2018)

101 Tage schipperten die Truppe über den Atlantik: Los ging es am 12. Mai 1973 in Gran Canaria. Das Ziel lag in Mexiko. (Im Bild: Screenshot aus Trailer von «The Raft», 2018)

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 Das Wetter war meist gut, die teilnehmenden Männer und Frauen – allesamt attraktiv und in ihren besten Jahren – meist knapp bekleidet. Was sollte da schon schief gehen? Einiges!

 Das Wetter war meist gut, die teilnehmenden Männer und Frauen – allesamt attraktiv und in ihren besten Jahren – meist knapp bekleidet. Was sollte da schon schief gehen? Einiges!

Fasad Productions/Metrograph Pictures

Darum gehts

«Leiter einer Atlantik-Expedition per Floss sucht Freiwillige, Mann oder Frau, für die Dauer von drei Monaten. Alter 25 bis 40, wenn möglich verheiratet, aber allein teilnehmend. Ausführlicher Lebenslauf erbeten. Vertraulichkeit wird zugesichert.» So lautete die Annonce, mit der der mexikanische Anthropologe Santiago Genovés in den 1970er-Jahren nach Probandinnen und Probanden für sein Acali-Experiment suchte. Sie war knapp formuliert, aber vielsagend. 

Sie verriet nämlich, dass Genovés auf Zwist unter den Teilnehmenden aus war – was der Wahrheit entsprach. Der auf die Erforschung von Gewalt spezialisierte Genovés wollte herausfinden, wie Konflikte und Aggressionen entstehen und warum Menschen gegeneinander kämpfen. 

Entführung brachte Forscher auf die Idee

Auf die Idee, Menschen auf einem Floss über den Atlantik rudern zu lassen, war er im November 1972 während der Rückreise von einer Fachtagung gekommen, als Terroristen das Flugzeug, in dem er sass, kaperten. Zwar endete die Entführung glimpflich (siehe Box), aber das Erlebnis brachte Genovés auf den Gedanken, eine ähnliche Situation künstlich herbeizuführen, um daran menschliches Verhalten unter extremen Bedingungen zu erforschen. Ein Floss auf dem offenen Meer schien ihm ideal.

Die Entführung von Southern Airways Flug 49 

In der Hoffnung auf eine Gruppe mit möglichst viel Konfliktpotenzial rekrutierte Genovés bewusst zehn einander fremde Personen mit verschiedenen Nationalitäten, Hintergründen und Religionen und isolierte sie für mehrere Wochen auf einem nur sieben mal zwölf Meter grossen Floss. Mit dabei waren eine schwedische Kapitänin, eine israelische Ärztin, eine schwarze und eine weisse US-Amerikanerin, eine Algerierin, eine Französin, ein uruguayischer Anthropologe, ein japanischer Fotograf, ein zypriotisch-griechischer Gastwirt aus Cambridge und ein angolanischer Priester. 

Attraktiv und knapp bekleidet

Dass alle Teilnehmenden attraktiv waren und während ihrer Reise von Gran Canaria nach Mexiko meist nur leicht bekleidet waren, war kein Zufall. Schliesslich hoffte Genovés auf sexuelle Spannungen in der Truppe. ​​Ein Umstand, der die damalige Presse dazu bewog, die Acali als «Sex-Floss» oder «Liebes-Floss» zu bezeichnen (siehe Box).

Der Forscher traf zudem weitere Vorkehrungen, um die Situation an Bord des Flosses anzuheizen: Er übertrug Frauen die Verantwortung, den Männern blieben geringfügige Aufgaben. «Ich frage mich, ob es zu weniger oder mehr Gewalt führen wird, wenn Frauen an der Macht sind», sinnierte Genovés in seinem Buch «Die Arche Acali». «Vielleicht werden Männer frustrierter, wenn Frauen das Sagen haben, und versuchen, die Macht zu übernehmen.»

«Sex-Floss» – Bezeichnung nicht von der Hand zu weisen

Keine Privatsphäre und weitere Reality-TV-Provokationen

Weiter nahm der Anthropologe den Teilnehmenden so gut wie jede Privatsphäre: Geschlafen wurde in einem Raum. Wer auf die Toilette musste, musste sich auf ein Loch über den Wellen setzen, gut sichtbar für alle anderen. Auch Körperpflege wurde vor den Mitreisenden betrieben. Zudem säte Genovés Zwietracht, indem er sie mit Fragen wie «Wen kannst du auf der Acali am wenigsten leiden?» gegeneinander ausspielte. Die Ergebnisse wurden vor der Gruppe vorgelesen – ein Vorgehen, das man heute etwa aus «Kampf der Realitystars» kennt.

Es ist nicht die einzige Parallele zu der derartigen Formaten. Schliesslich unterstützte ein mexikanischer TV-Sender das Acali-Projekt. Im Gegenzug erwartete er wöchentliche Reports zu allen Ereignissen an Bord für seine Sendung. «Ich vermute, wenn Santiago [Genovés] heute noch am Leben wäre, würde er im Reality-TV arbeiten», so der schwedische Filmemacher Marcus Lindeens, der die Geschehnisse von damals im Dokfilm «The Raft» festhielt. Die Universität, für die Genovés damals arbeitete, distanzierte sich von dem Projekt.

Teilnehmende hatten Mordgedanken 

Trotz aller Hoffnungen – und Bemühungen – des Forschers: Die Stimmung der Teilnehmenden war prima. Die Männer und Frauen verstanden sich grossartig, der Umgang miteinander war respektvoll. Daran konnten selbst Hurrikans, auf die die Acali-Crew mit Genovés Wissen zusteuerte, nichts ändern. 

Die Tatsache, dass er die Kapitänin sogar kurzerhand absetze, die angesichts der Gefahr durch die Wirbelstürme Floss und Besatzung auf einer Karibikinsel in Sicherheit bringen wollte, und selbst das Ruder übernahm, brachte die Teilnehmenden nur noch näher zusammen – und gegen den Expeditionsleiter auf: Sie spielten mit dem Gedanken, ihn über Bord gehen zu lassen, wie ein Teil von ihnen in «The Raft» verrät. 

So weit kam es dann aber nicht. Denn Genovés wurde krank: Blinddarmentzündung. Er zog sich zurück und liess die anderen in Ruhe. So sei erreicht gewesen, was man wollte, «ohne ihn über Bord zu schmeissen», so Edna Reves, die damals noch Jones hiess, zu Spiegel.de. Und so kam die Acali ohne nennenswerte zwischenmenschliche Zwischenfälle in Mexiko an.

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