Krieg in der Ukraine«Das Dritte Reich wurde auch nicht mit Friedensfahnen gestoppt»
Marta Havryshko ist ukrainische Historikerin und erforscht den Genozid im Zweiten Weltkrieg in ihrer Heimat. Der Krieg zwang sie zur Flucht. Nun lehrt sie an der Uni Basel.
- von
- Steve Last
Darum gehts
Historikerin Marta Havryshko floh wegen der russischen Invasion aus der Ukraine in die Schweiz.
Mit 20 Minuten spricht sie über die heutige Situation in ihrer Heimat und welche Parallelen es zum Zweiten Weltkrieg gibt.
Am Freitag nimmt sie anlässlich des Jahrestags der Invasion am öffentlichen Podium der Universität Basel zum Krieg teil.
Die russische Propaganda stellt die Ukraine als ein Land dar, das von Nazis kontrolliert wird. Wie sehen Sie das, gerade als Historikerin?
Der Kreml propagierte die Idee von Nazis und Faschisten in der Ukraine schon lange vor dem 24. Februar 2022. Bereits die Maidan-Revolution wurde als eine Rebellion rechtsextremer Gruppen diskreditiert. Aber Rechtsextreme gibt es leider in jedem Land. In Wirklichkeit war die Revolution breit in der Bevölkerung abgestützt. Es war ein Wendepunkt in der Geschichte der Ukraine. Wir haben uns vom russischen Einfluss ab- und europäischen Werten zugewandt. Uns war aber immer klar, dass Russland uns nie wird gehen lassen – wie jemand, der häusliche Gewalt verübt. Das Problem liegt in der imperialistischen Einstellung gegenüber der Ukraine, die in Russland weit verbreitet ist.
Wie äussert sich das?
Wie bringt man Menschen dazu, andere Menschen zu foltern, zu vergewaltigen und zu töten? Man stellt sie als etwas anderes dar, als etwas Böses, man spricht ihnen ihre Menschlichkeit ab. Der Kreml bedient sich hier gleich mehrerer Themen: einmal sind es Nazis, einmal der Teufel, einmal der westliche Fortschritt in LGBTQI-Belangen, die angeblich die christliche Werte-Bastion Russland bedrohen. Sie haben eins gemeinsam: sie werden als das Böse dargestellt. Solche Entmenschlichung steht am Beginn eines jeden Völkermords. So können die Täter ihren Verstand bewahren. Auch im Holocaust war es für die Nazis entscheidend, die Juden und andere Opfer nicht als menschliche Wesen zu betrachten.
Sie setzen sich im Rahmen Ihrer Forschung mit dem Holocaust in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg auseinander. Gleichzeitig sprechen Sie im Zusammenhang mit der russischen Invasion von Völkermord. Sehen Sie Parallelen?
Jeder Genozid ist einzigartig. Wir beobachten in der Ukraine aber Anzeichen, dass Russland Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt. Die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur werden angegriffen, Kinder werden deportiert und sexuelle Gewalt wird systematisch als Waffe eingesetzt – von erzwungener Nacktheit bis zu Geschlechtsverstümmelung. Die Geschichte des und die Erinnerungen an den Holocaust werden jedoch von beiden Seiten instrumentalisiert. Auf ukrainischer Seite gibt es die Behauptung, die ukrainische Bevölkerung leide wie die Juden. Das ist so nicht ganz richtig. Sie leidet, aber die Juden hatten während des Holocaust keinen eigenen Staat, der sie verteidigte. Viele Staaten weigerten sich gar, ihnen zu helfen. Die Ukraine kämpft für ihre Bevölkerung und erfährt breite militärische und humanitäre Unterstützung.
Was macht Russland?
Der Kreml ist hingegen bemüht, die Ukraine als die neuen Nazis und die Russen als die neuen Juden darzustellen. So behauptete Aussenminister Sergei Lawrow etwa, Adolf Hitler habe jüdische Wurzeln gehabt, um zu erklären, wie die Ukraine ein Nazi-Staat sein soll, obwohl Präsident Wolodimir Selenski Jude ist. In Israel war man ausser sich. Aber der Kreml biegt die Geschichte zu einem Mythos, um sein Handeln zu rechtfertigen und die Bevölkerung zu mobilisieren. Dabei wird völlig unter den Tisch gekehrt, dass Ukrainer genauso in der Roten Armee dienten und gegen die Nazis kämpften. Das aber passt nicht in das Bild von Gut und Böse. So gab es im Zweiten Weltkrieg sowohl in Russland wie auch in der Ukraine Nazi-Kollaborateure, nur darf man in Russland nicht darüber sprechen.
Es gibt Stimmen im Westen, auch in der Schweiz, die der Ukraine, dem Westen, der Nato und den USA eine Mitschuld am Krieg geben. Wie sehen Sie das?
Das ist eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. Bei einer Vergewaltigung liegt die Schuld nie beim Opfer, sondern immer beim Täter – völlig egal, wie kurz sein Rock war. In diese Falle darf man auch nicht tappen, wenn man über Politik spricht. Es sind am Ende russische Bomben, die die ukrainische Bevölkerung in ihren Häusern töten. Die Verantwortung des Westens liegt vor allem in seiner Beschwichtigungspolitik gegenüber Russland. Und man kann nun wirklich nicht sagen, dass die Aggressionen ohne Ansage kamen. Denken Sie an Tschetschenien, Georgien und Syrien. In der Ukraine leben wir schon seit Jahrzehnten mit russischen, imperialistisch motivierten Repressionen, Drohungen und Truppenaufmärschen. Die Sowjetunion hat die Ukraine 1922 brutal erobert. Bei der grossen Hungersnot von 1932 bis 1933 starben Millionen. Das Land wurde über Dekaden hinweg russifiziert. Im Jahr 1991 erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit, was aber nichts an den russischen Ansprüchen änderte. Können Sie es sich vorstellen, einen so überlegenen Giganten als Nachbar zu haben?
Und kürzlich?
Nach der Maidan-Revolution 2014 annektierte Russland die Krim und unterstützte die Separatisten im Donbas. Und am 24. Februar 2022 folgte die Invasion. Versuchen Sie, sich in die Lage der ukrainischen Bevölkerung hineinzuversetzen. Ich fürchte, dass viele Menschen in Ländern, die so sicher sind, wie die Schweiz, dazu nicht in der Lage sind. Jeder Versuch, eine ukrainisch-nationale Identität zu formen, wurde aus Moskau erdrückt. Die Invasion ist nur das neuste Kapitel einer von Unterdrückung und Leid geprägten Geschichte. Setzen Sie sich mit ihr auseinander, statt sich daran zu stören, dass die Nachrichten Ihren Alltag trüben. Sie wollen Frieden? Ich auch. Aber nicht auf Kosten einer russischen Okkupation meiner Heimat, in die ich nicht zurückkehren kann. Und das Dritte Reich wurde auch nicht durch das Schwenken von Friedensfahnen gestoppt, sondern mit Panzern. Wer sich davon abwendet, was Russland in der Ukraine verübt, macht sich an den Verbrechen mitschuldig.
Beschäftigt dich oder jemanden, den du kennst, der Krieg in der Ukraine?
Hier findest du Hilfe für dich und andere:
Fragen und Antworten zum Krieg in der Ukraine (Staatssekretariat für Migration)
Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK, Tel. 058 400 47 77
Kriegsangst?, Tipps von Pro Juventute
Beratungsangebot (Deutsch, Ukrainisch, Russisch), von Pro Juventute
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Anmeldung und Infos für Gastfamilien:
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tel. 058 105 05 55
Bist du oder ist jemand, den du kennst, von Antisemitismus betroffen?
Hier findest du Hilfe:
GRA, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
Jüdische Fürsorge, info@vsjf.ch
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143