Stimme aus dem Bunker«Der Konflikt brach am selben Tag aus, an dem ich nach Hause fliegen wollte»
Die Französin Camille Marquis arbeitet für Médecins Sans Frontières im Sudan. Am Tag, an dem sie zurück zu ihrer Familie fliegen wollte, brach der Konflikt aus. Jetzt berichtet sie aus dem Bunker.
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Darum gehts
Am vergangenen Samstag endete der einjährige Einsatz der Französin Camille Marquis für die Hilfsorganisation «Médecins sans Frontières» im Sudan.
Oder besser: Hätte enden sollen. Denn am Tag ihrer Abreise brach der bewaffnete Konflikt aus.
Nun sitzt Marquis bereits den sechsten Tag in Folge in einem Luftschutzbunker fest.
Von da aus berichtet sie für 20 Minuten von den katastrophalen Zuständen im Land und der Gefahr für Millionen von Menschen, darunter viele Kinder.
«Mein Gepäck war gepackt, mein Kühlschrank und meine Schränke waren leer, und ich hatte nur noch ein paar Stunden Zeit, um zum Flughafen zu fahren und nach einem Jahr im Sudan nach Hause zu fliegen. Vergangenen Samstag dachte ich, meinen letzten Tag in Karthum zu verbringen. Doch während ich frühstückte, hörte ich um 8.30 Uhr draussen plötzlich Schüsse.
Alle im Guesthouse gingen rasch hinunter in den Keller, wo sich eine Art Bunker befindet. Zusammen mit mehr als zehn Kolleginnen und Kollegen, verbrachte ich den Tag auf dem Boden sitzend. Die von aussen hereindringenden Geräusche von heftigen Schiessereien, tief fliegenden Flugzeugen und Knalle nach Luftangriffen liessen uns immer wieder aufschrecken. Die Wände wackelten und die kleinen Fenster erzitterten bei den unheimlichen Geräuschen, die im Raum widerhallten. Nach einem Knall herrschte oft Stille, die aber nie lange anhielt.»
«Die Verletzten konnten nicht versorgt werden»
«Statt zum Flughafen zu fahren und heimzufliegen, verbrachte ich diese Nacht am Boden, umgeben von meinen Kolleginnen und Kollegen. Ich dachte an die Menschen, die im Flughafen feststeckten, wo schwere Kämpfe stattgefunden hatten. Ich hätte unter ihnen sein können. Einige waren verwundet worden, doch die Verletzten konnten den Flughafen nicht verlassen, um medizinisch versorgt zu werden. Ich dachte auch an alle meine sudanesischen Kolleginnen und Kollegen und an all die Menschen in Khartum.»
Seit Tagen schockieren Erlebnisberichte aus dem Sudan.
«Im Gegensatz zu mir hatten die meisten von ihnen nicht die Möglichkeit, in einem Schutzraum zu schlafen – ausgerüstet mit einem Notvorrat an Wasser und Lebensmitteln. Heute ist der sechste Tag der Kämpfe in den Strassen der dicht besiedelten Stadt mit ihren etwa zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Lebensmittel, Wasser und Treibstoff werden knapp, und die Menschen gehen grosse Risiken ein, um sich in den Geschäften zu versorgen, deren Angebot schon stark eingeschränkt ist.»
«Das macht unglaublich traurig»
«Wenn ich die Zerstörung draussen höre, wenn ich von den Toten lese, von den Verletzten und Kranken, die nicht einmal in der Hauptstadt ein funktionierendes Spital erreichen können, macht mich das unglaublich traurig. Für den Sudan und die Menschen, die inmitten von Kämpfen zwischen bewaffneten Konfliktparteien ihres eigenen Landes festsitzen. Die Bevölkerung versucht, sich irgendwie Nahrung, Wasser, Medikamente und medizinische Versorgung zu beschaffen – und das bereits in den ersten Tagen nach Beginn der Kämpfe.
Deren Folgen und Auswirkungen auf den bereits eingeschränkten Zugang zu humanitärer Hilfe werden absolut dramatisch sein. Während eines Jahres habe ich den humanitären Bedarf im Sudan untersucht und die Auswirkungen der bestehenden Unterversorgung auf die Gesundheit und Ernährung der sudanesischen Bevölkerung – insbesondere der Kinder – dokumentiert.»
Weshalb kommt es im Sudan überhaupt zu kämpfen? Die Erklärung gibt es im Video.
«Aufgrund der Kämpfe können wir die lebensrettende Hilfe nicht leisten»
«Von meinen Kolleginnen und Kollegen, die derzeit mit mir in Khartum festsitzen, sollten eine Pflegefachfrau und eine Ausbilderin nach El Geneina in West-Darfur fliegen, um in dem von ‹Ärzte ohne Grenzen› unterstützten Spital zu arbeiten und schwer mangelernährte und kranke Kinder zu behandeln. Der Psychologe von ‹Ärzte ohne Grenzen›, der im Spital von El Geneina arbeitet, sitzt ebenfalls in Khartum fest. Aufgrund der Kämpfe werden sie alle möglicherweise nicht so bald zurückkehren können, um lebensrettende Hilfe zu leisten.
Die Teams in West-Darfur berichten zudem über eine ungewöhnlich niedrige Zahl von Patientinnen und Patienten auf den Krankenstationen. Das zeigt wahrscheinlich, dass die Menschen aufgrund der Kämpfe ihre Häuser nicht verlassen wollen, um im Spital Hilfe zu suchen. Dabei erreichen erfahrungsgemäss die Fälle von Mangelernährung in El Geneina Anfang Mai – also in nur zehn Tagen – ihren Höhepunkt.»
«Millionen von Kindern drohen schwere Folgen»
«Wenn die humanitären Mitarbeitenden und das Gesundheitspersonal ihre Arbeit nicht ausführen können und die Patientinnen und Patienten aus Angst kein Spital mehr aufsuchen, dann drohen Millionen von Kindern und anderen gefährdeten Menschen im Sudan schwere gesundheitliche Folgen. Dabei befanden sich die Menschen im Sudan bereits vor Ausbruch der Kämpfe in einer humanitären Krise.
Etwa ein Drittel der Bevölkerung war bereits vor dem aktuellen Konflikt von Hunger bedroht. Es ist davon auszugehen, dass sich die Situation im ganzen Land weiter verschlechtern wird. ‹Ärzte ohne Grenzen› fordert deshalb alle Konfliktparteien auf, die Sicherheit des medizinischen Personals und der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten, damit sie die Gesundheitseinrichtungen erreichen können, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen.»
* Die Französin Camille Marquis ist Advocacy Manager für Ärzte ohne Grenzen und war ein Jahr im Sudan im Einsatz.
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