Sexuelle Gewalt«Der Prozess traumatisierte mich fast mehr als die Tat selbst»
Betroffene von sexueller Gewalt kritisieren das Vorgehen der Polizei und Staatsanwaltschaften. Zwei Betroffene Frauen erzählen, wie sie den strafrechtlichen Prozess erlebten.
- von
- Christina Pirskanen
Darum gehts
Eine Umfrage im Auftrag der Kantonspolizei Bern ergab, dass die Hälfte der 16 befragten Betroffenen von sexualisierter Gewalt mit dem Verhalten der Polizeibeamten nicht oder nur mässig zufrieden war. Auf einen Aufruf von 20 Minuten meldeten sich zahlreiche Betroffene – zwei junge Frauen erzählen von ihren Erfahrungen.
A.*, (26)
Ich wurde im Juni 2019 von meinem damaligen Ex-Freund vergewaltigt. Aus Scham und Angst behielt ich dieses Geheimnis drei Wochen lang für mich, bis ich meine Mitbewohnerin und Eltern einweihte. Der Täter wurde festgenommen und nach 24 Stunden wieder entlassen – ein Rayonverbot wurde erst ausgesprochen, nachdem er zum dritten Mal an meinem Arbeitsort aufgetaucht war.
Bei den Einvernahmen der Staatsanwaltschaft kam es zu mehreren Situationen, die mich sehr belasteten. Meine Freundinnen mussten weinend und zitternd als Zeuginnen aussagen, während der Täter sie mehrmals anschrie und beleidigte. Seinem eigenen Zeugen gab der Täter die gewünschten Antworten vor – die Staatsanwaltschaft schritt nur bedingt mit Verwarnungen ein.
Mein Prozess ist immer noch nicht zu Ende – nach mehreren Verzögerungen soll die Hauptverhandlung nun im Sommer 2022 stattfinden, drei Jahre nach der Tat. Ich habe mich während des ganzen Prozesses enorm vernachlässigt und nicht ernst genommen gefühlt. Hätte ich nicht so eine dicke Haut und ein starkes Umfeld, wäre ich am Boden zerstört. Ich verstehe jede Frau, die diesen Prozess nicht durchsteht oder durchstehen will. Für mich war der Prozess fast traumatisierender als die Tat selbst.
Staatsanwaltschaft nimmt Stellung
J.*, (21)
Ich wurde mit 15 Jahren von einem Familienangehörigen sexuell belästigt. Aus Angst habe ich vier Jahre lang keine Anzeige erstattet – dann nahm ich meinen Mut zusammen und erstattete Anzeige bei der Polizei. Die Befragung durch die weibliche Beamtin war sehr angenehm, sie begegnete mir auf Augenhöhe und ich fühlte mich nicht als Opfer.
Anders war das bei der Staatsanwaltschaft: Dort wurde ich ganz klar wie eine «Nummer» behandelt – es wurde nie Rücksicht auf meine psychische Gesundheit genommen. Ich hätte mehrmals eine Pause während der Befragung gebraucht, diese aber nie bekommen. Richtig unangenehm wurde es, als der Staatsanwalt zu mir ins Zimmer kam und mir mitteilte, dass der Täter weinen und die Tat bereuen würde. Der Täter sass zu diesem Zeitpunkt in einem Nebenraum und verfolgte meine Befragung live mit, was gesetzlich so vorgegeben ist. Dass der Staatsanwalt fast Mitleid mit dem Täter zeigte, störte und verletzte mich extrem.
Als ich das Büro des Staatsanwalts nach meiner Aussage verliess, stand die Tür zum Nebenraum offen – ich hörte die Stimme des Täters. Ich fühlte mich hilflos und respektlos behandelt. Der ganze Prozess war enorm anstrengend und zerrte an meinen Kräften – ganze sieben Mal musste ich meine Geschichte bis ins kleinste Detail erzählen.
Strafrechtsexperte: Strafprozesse dauern in der Schweiz zu lange
Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?
Hier findest du Hilfe:
Polizei nach Kanton
Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz
Lilli.ch, Onlineberatung für Jugendliche
Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein
Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer
Agredis, Gewaltberatung von Mann zu Mann, Tel. 078 744 88 88
LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147