Boykott der Katar-WM? Ethikprofessor nennt Kritik «scheinheilig»

Aktualisiert

HSG-Ethikprofessor«Die aktuelle Kritik an der WM in Katar ist scheinheilig»

Am Sonntag gehts los mit dem umstrittenen Turnier im Wüstenstaat. Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner erklärt, weshalb Protestbekundungen heute zu spät kommen.

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Kurz vor der WM wird die Durchführung in Katar weltweit heftig kritisiert: Ein Beispiel aus dem Bundesliga-Spiel zwischen Freiburg und Union Berlin vom 13. November, wo Fans zum Boykott aufrufen.

Kurz vor der WM wird die Durchführung in Katar weltweit heftig kritisiert: Ein Beispiel aus dem Bundesliga-Spiel zwischen Freiburg und Union Berlin vom 13. November, wo Fans zum Boykott aufrufen.

IMAGO/Sportfoto Rudel
Am selben Tag kam es auch in Nürnberg zu Fan-Protesten.

Am selben Tag kam es auch in Nürnberg zu Fan-Protesten.

IMAGO/Zink
Kritisiert werden vor allem die Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den womöglich gestorbenen Gastarbeitern auf den katarischen Grossbaustellen.

Kritisiert werden vor allem die Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den womöglich gestorbenen Gastarbeitern auf den katarischen Grossbaustellen.

IMAGO/Pixsell

Darum gehts

  • Am Sonntag wird die Fussball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar offiziell eröffnet.

  • Aufgrund von Menschenrechtsverletzungen ist das Turnier stark umstritten.

  • Kurz vor dem Anlass werden rund um die Welt einmal mehr Proteststimmen laut.

  • HSG-Ethikprofessor Thomas Beschorner ordnet im Gespräch mit 20 Minuten ein.

  • Beschorner: «Wir bekommen genau die WM, die wir verdienen.»

Wenige Tage vor dem Auftaktspiel in Katar ist die Kritik am Turnier und am Gastgeberland lauter als je zuvor. Ob Boykott-Aufrufe oder eifriger Symbolismus: Kaum jemand verzichtet zurzeit darauf, seine Ablehnung gegenüber der Austragung im umstrittenen Wüstenstaat kundzutun. Wieso haben wir nun diese WM, die offenbar keiner haben will? Und was bringt diese späte Kritik?

Um diese Fragen zu beantworten, hat 20 Minuten mit Prof. Dr. Thomas Beschorner gesprochen. Der 52-Jährige ist Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen und gilt als einschlägiger Experte, wenn es um ethische Fragen in der Sportindustrie geht.

Was spricht für einen Boykott der WM in Katar? 

WM-Boykott? Was bitte soll das denn jetzt noch heissen? Die WM findet ja statt! Ich weiss aber, worauf Sie hinauswollen. Im Idealfall setzt man als Konsument der Spiele ein Signal. Wenn der Zuschauerzuspruch kleiner ist als erwartet, wäre das ein Signal in Richtung TV-Stationen und Sponsoren für künftige sportliche Grossereignisse. In der Tat wäre es ein wichtiges Votum der Gesellschaft zu sagen: «Mit uns nicht, denn es werden rote Linien überschritten!»  

Was spricht dafür, sie trotzdem zu schauen?

Man sollte bei den Diskussionen aufpassen, dass sie nicht von den eigentlichen Fragen ablenken. Die Verantwortung dieser in allen Bereichen menschenverachtenden Veranstaltung liegt nicht primär bei Yann Sommer oder einer Fan-Truppe aus Grindelwald. Die Verantwortungsträger sind die internationalen und nationalen Verbände sowie auch die Politik. Diese Akteure sollten wir nicht vom Haken lassen. 

Weshalb?

Sie haben sich nie ernsthaft über einen Boykott der Veranstaltung und die Organisation eines alternativen Turniers beraten. Stattdessen haben sie sich systematisch hinter der Rhetorik versteckt, die WM würde in Katar Demokratisierungsprozesse lostreten, was schlicht nicht zu erwarten ist. 

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Prof.  Dr. Thomas Beschorner ist Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.

Prof.  Dr. Thomas Beschorner ist Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.

NIKOLAUS URBAN
Der 52-Jährige wertet es als «scheinheilig», die Verantwortung an den Konsumenten bzw. die Konsumentin abzugeben.

Der 52-Jährige wertet es als «scheinheilig», die Verantwortung an den Konsumenten bzw. die Konsumentin abzugeben.

NIKOLAUS URBAN
Beschorner: «Wir bekommen genau die WM, die wir verdienen.»

Beschorner: «Wir bekommen genau die WM, die wir verdienen.»

NIKOLAUS URBAN

Die Abgabe der Verantwortung an den Konsumenten nennen Sie in einer Publikation «scheinheilige Kritik».

Ja, die aktuelle Kritik an der WM in Katar ist scheinheilig, weil sie schlicht zu spät kommt. Jetzt diskutieren wir über Zuschauer-Boykotte. Mündige Bürger sollten verantwortungsvoll und nachhaltig konsumieren und deshalb auf den Konsum der WM verzichten. Das ist zwar nicht nichts – aber eben auch nicht viel und vor allem nicht das Richtige, weil so Verantwortungsfragen nach unten verschoben werden. Die Organisatoren der Veranstaltung werden damit schleichend aus der Verantwortung genommen. Wir bekommen genau die WM, die wir verdienen. 

Was ist das zentrale Problem mit Katar?

Die WM in Katar veranschaulicht die Strategie eines autoritären Regimes zur Herstellung von innen- und aussenpolitischer Legitimation. Wer dabei auf Demokratisierungsprozesse hofft, dürfte enttäuscht werden. Vergangene Weltmeisterschaften in autoritären Staaten wie Chile 1962, Argentinien 1978 oder Russland 2018 haben das gezeigt. Das Gegenteil wird der Fall sein: Das Regime dürfte durch die Veranstaltung gar noch stabilisiert werden.

Was hätte die Fifa anders machen können, als die WM bereits nach Katar vergeben worden war?

Man hätte genauer hinschauen können, was Katar macht. Das gilt beispielsweise für die Situation auf den Baustellen und die toten Gastarbeiter. Es war ja ein Rechercheartikel der englischen Zeitung «Guardian», die die Geschichte vor gut zwei Jahren ins Rollen gebracht hat – und nicht die Fifa. Erst nach der Aufdeckung hat man reagiert und im Sinne der Imagepflege auf den Reparaturmodus umgeschaltet. 

«Man muss die Fifa mehr an die Leine nehmen.»

Prof. Dr. Thomas Beschorner

Was wäre denn besser als der «Reparaturmodus»?

Die Politik muss wach werden. Wir haben es bei der Fifa mit einem Akteur zu tun, der gewissermassen die Weltgeschicke hochgradig mitgestaltet, aber dies nicht immer zum Guten tut und dabei in keiner Weise demokratisch legitimiert ist. Deshalb müsste man sie mehr an die Leine nehmen. Dabei ist auch die Schweiz als ihr Domizil gefragt. Ist die Fifa noch eine gemeinnützige Organisation, verbunden mit diversen Vorteilen? Das könnte man mal juristisch prüfen. 

Nun gibt es halt viele kleine Protestaktionen wie etwa die Regenbogen-Captainsbinde oder die abgedunkelten Logos auf den Dänemark-Trikots. Was bringt das?

Es ist wichtig, dass es sich dabei nicht um reine «Feel Good»-Massnahmen handelt. Ein Zeichen zu setzen, kann manchmal wichtig sein. Aber wenn das nur auf einer symbolischen Ebene abläuft, wird es problematisch. Wir werden nun eine Vielzahl solcher Signale sehen. Ich will das gar nicht runterspielen – aber da machen wir uns als Gesellschaft auch etwas vor. 

Viele Firmen, wie zum Beispiel «Brewdog», springen nun auch marketingmässig auf den Zug der Katar-Kritik auf. Kann das auch kontraproduktiv sein?

Ich würde nicht sagen kontraproduktiv. Nicht jede Massnahme einer Firma im Zusammenhang mit Ethik dient dem reinen Marketing. Man darf die Bedeutung der Wirtschaft nicht unterschätzen, wenn es darum geht, Werte zu artikulieren. Die Anti-Sponsor-Kampagne von «Brewdog» kommt gut und cool daher. Zugleich zeigen sie die Spiele in ihren Bars. Hallelujah, typischer Bullshit! 

Kritisieren wir als westliche Bevölkerung in Katar teils nicht auch einfach kulturelle Differenzen?

Es stellt sich dabei die Frage, welche Werte wir verteidigen wollen. Natürlich gibt es da einen Unterschied zwischen Alkoholverbot und etwa der Diskriminierung von Homosexuellen. Da müssen wir als Gesellschaft festlegen, was für uns nicht verhandelbar ist. Dafür dann nicht einzustehen, würde heissen, dass wir uns gewissermassen selbst aufgeben. 

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