«Die Atomanlagen sind nicht sicherer geworden»
Die Probleme Russlands mit seinen Atomanlagen gehen weit über Tschernobyl hinaus. Der russische Nuklearexperte Vladimir Kuznetsov zieht ein vernichtendes Fazit zur Sicherheit: Die 31 Atomkraftwerke sind veraltet und störanfällig. Nur hört man von den Störungen nichts mehr.
Tschernobyl war die grösste Katastrophe, aber nicht die einzige. Schon 1957 kam es in Tscheljabinsk zu einem Unglück in der Grössenordnung von Tschernobyl. 1993 verseuchte ein Zwischenfall in Tomsk einen Umkreis von 15 Kilometern: Der 50-jährige Vladimir Kuznetsov kennt die russischen Anlagen und ihre Probleme. Als Chefexperte inspizierte er sie, ehe er 1992 auf Druck des Atomministeriums seinen Posten verlassen musste. Er hatte den Betrieb von zehn Anlagen verbieten wollen.
Heute ist er bei der Umweltorganisation Green Cross Direktor des Nuklear- und Strahlungssicherheitsprogramms. In dieser Funktion hielt er an der Universität Zürich einen Vortrag über die Situation der Atomanlagen in Russland 20 Jahre nach Tschernobyl.
Zahlreiche weitere Unglücke
11 der 31 russischen Atomkraftwerke sind vom gleichen Typ wie jenes in Tschernobyl. Dieser RBMK genannte Reaktortyp wurde laut Kuznetsov gewählt, da er der billigste ist. Ein RBMK habe nur einen einfachen Kühlzyklus, weshalb alles im Reaktor radioaktiv ist. Da er nur mit einer schwachen Betondecke geschützt ist, dringe sofort Radioaktivität in die Umgebung.
Gespart wurde stets auch beim Unterhalt. So seien auch beim ältesten RBMK, 1973 bei St. Petersburg erstellt, bei einer Sanierung 370 kleine Risse und Löcher entdeckt worden. Eine insgesamt äusserst gefährliche Situation, leben doch 4 der 145 Millionen Russinnen und Russen in der Nähe der 31 Atomkraftwerke.
Nur noch grosse Störfälle gemeldet
Heute warnt Kuznetsov: Nur zwei AKWs wurden nach der Katastrophe von Tschernobyl gebaut und gelten als modern. Die anderen wurden in den 1950er Jahren entwickelt. 21 Reaktoren laufen seit über 20 und teilweise fast 30 Jahren - obwohl AKWs auf 30 Jahre Laufzeit ausgerichtet sind.
In Zusammenhang mit dem hohen Alter und der Bauweise steht die hohe Störanfälligkeit der Reaktoren. Zahlen des Staates zufolge gingen die Störfälle von 164 im Jahr 1991 sukzessive auf 44 im Jahr 2004 zurück. «Die Atomkraftwerke sind nicht sicherer geworden», betonte Kuznetsov, «sondern früher wurden alle Störfälle gemeldet, heute nur noch die grössten.»
Nicht beantwortet sei auch die Frage, wohin mit den abgebrannten Brennstäben. Jährlich fallen weitere 800 Tonnen an - und die Endlager sind bereits fast voll. Zu 95 Prozent gefüllt ist zudem das Endlager in Kursk, wo andere nukleare Abfälle wie Wasser oder Kleider entsorgt werden.
(sda)