«London Calling»Die besten Spiele aller Zeiten - definitiv
Der Sport ist heim nach England gekommen. Deshalb waren es die besten Sommerspiele aller Zeiten. Und: «Weisse Elefanten» wirds in London nicht geben.
- von
- Klaus Zaugg
- London
Ja, der ehemalige IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch hätte es gesagt: «the best ever.» Er pflegte während seiner Amtszeit (1980 bis 2001) beim Schlusswort die jeweiligen Spiele als «die besten aller Zeiten» zu rühmen - und alle waren selig. Nur einmal verweigerte er diese Adelung. Nach den Chaos-Spielen von 1996 in Atlanta. Aber jetzt, nach London 2012 hätte er es ganz sicher gesagt: die besten aller Zeiten. Sein Nachfolger Jacques Rogge hat sich immerhin zur Wertung «fabelhaft» durchgerungen.
Wir können es auch ganz schlicht sagen: Am Sonntag ist in London etwas Schönes zu Ende gegangen. Nicht nur die besten, auch die schönsten olympischen Sommerspiele aller Zeiten. Oder zumindest seit der Kommerzialisierung des olympischen Zirkus, die 1984 in Los Angeles begonnen hat.
Zwei Wochen lang war in London jeden Tag Sonntag. Die Menschen freundlich und hilfsbereit. Ein Heer von freiwilligen Helfern lotste die Gäste durch die Stadt. An jeder Ecke standen sie. Um zu helfen wenn jemand mit Weg und Steg in der riesigen Stadt nicht vertraut war. Die schlechten, die traurigen Nachrichten fast vollständig aus den Zeitungen und den TV-Programmen verbannt. Eine fröhliche und friedliche Party.
Jubel für die Briten
Die grandiosen Leistungen der britischen Helden, die alle Erwartungen übertroffen haben, löste jene Sportbegeisterung aus, die es so nur in England gibt: Brausender Jubel für die heimischen Sieger. Hühnerhaut, wenn 70 000 sangen «God save the Queen». Aber immer auch Applaus und Respekt für die Gegner und für die Verlierer.
Die Medien drehten bei der Suche nach Superlativen durch. Die Zuschauer nicht. Kein lärmender, vulgärer Patriotismus (wie 1996 in Atlanta). Dafür Stolz mit Gelassenheit und echte Begeisterung eines Volkes, das den Sport in der heutigen Form erfunden hat. Der Sport ist sozusagen heimgekehrt nach England. 1996 in Atlanta gewannen die Briten 15 Medaillen und feierten einen Olympiasieger. Jetzt sind es 65 Medaillen und 29 Olympiasieger.
Zwei Wochen lang hat ein Land seine Sorgen vergessen, zwei Wochen lang haben sich alle grossartig gefühlt, zwei Wochen lang fühlten sich alle wie Kinder beim Besuch von Disney Land. London 2012 steht auch als faszinierendes Beispiel für die positive Energie, die positive Kraft des Sportes. Nichts eint, nichts begeistert die Menschen gerade im 21. Jahrhundert mehr als Sport. Diese Kraft ist stärker als Doping und Kommerz.
Keine Schikanen
Es waren auch deshalb grandiose Spiele, weil sie in sich Sport und Geschichte auf wundersame Weise begegnet sind. Stadien und Arenen in wunderschöner Umgebung: Hyde Park, St. James Park, Greenwich Park, Wimbledon.
London ist so gross (mehr als 8 Millionen Einwohner) und die öffentlichen Verkehrsmittel funktionieren so gut, dass diese Spiele in den Alltag der Stadt integriert, ja vom Alltag aufgesogen worden sind. Die Sicherheitsmassnahmen waren nie schikanös, ja nicht einmal störend. Es gab nur selten ein Gedränge, nicht einmal in der U-Bahn, und das Verkehrschaos ist auch ausgeblieben. Das beklemmende Gefühl gigantischer Spiele (wie 2008 in Peking) ist nie aufgekommen. Und schliesslich und endlich stimmte auch noch das Wetter: Es war nicht zu heiss, nicht zu kühl und nur hin und wieder ein Regenschauer.
Olympische Spiele brauchen nicht nur eine perfekte Organisation, wenn sie unvergesslich bleiben sollen. Sie brauchen ein Gesicht. Wir erinnern uns an die Menschen, an die Stars, nicht an die Orte. Usain Bolt ist der Sport-Popstar der Spiele von 2012. Zusammen mit Roger Federer der charismatischste Einzelsportler des 21. Jahrhunderts.
Keine «weissen Elefanten»
London 2012 ist noch aus einem Grund bemerkenswert. Es wird keine weissen Elefanten geben. Das grosse Problem der Sommerspiele sind die «weissen Elefanten»: Stadien, die viel zu gross sind, nach den Olympischen Spielen nicht mehr sinnvoll genutzt werden können und nur noch Kosten verursachen.
Der grösste weisse Elefant ist das Olympiastadion in Montréal. Die Spiele von 1976 endeten bei einem Budget von 1,5 Milliarden Dollar mit einem Rekorddefizit von einer Milliarde Dollar, das sich die Stadt Montréal (200 Millionren), die Provinz Québec (800 Millionen) teilten. Die Zeche zahlten die Bürgerinnen und Bürger mit Sondersteuern bis ins Jahr 2006. Das Olympiastadion wurde zum Symbol für Misswirtschaft, der teuerste weisse Elefant der olympischen Geschichte, den die Québécois ironisch «the big owe» (die grossen Schulden) nennen.
In frischer Erinnerung sind uns auch die zu Ruinen zerfallenen Arenen in Athen. Peking hat nur deshalb keine grossen Probleme mit seinem Olympiastadion, weil der Staat diesen architektonischen «weissen Elefanten» hegt und pflegt und in eine Touristenattraktion umgewandelt hat. Das architektonisch wunderbare Stadion ist für die Chinesen zum Erinnerungsort geworden.
Lehren aus Peking und Athen
Davis Stubbs, der «Baugeneral» der Spiele in London, sagt: «Wir haben aus den Beispielen von Athen und Peking gelernt.» In London ist von allem Anfang an darauf geachtet worden, keine Bauten zu errichten, die später nicht mehr genutzt werden können. Die Stadt wird die Olympischen Spiele auch baulich einfach aufsaugen und «verdauen».
Das Olympiastadion für 70 000 Zuschauern wird zu einer Arena für 25 000 Zuschauer redimensioniert. Das Fassungsvermögen des Schwimmstadions von 17 500 auf 2500 zurückgebaut. Die offene Wasserballarena (5000 Plätze) im Olympic Park wird gar vollständig wieder abgebaut. Das Reitstadion draussen im Greenwich-Park (22 000 Plätze) und die Beachvolley-Arena im St. James-Park verschwinden ebenfalls vollständig. Es handelt sich dabei um Stahlrohrbauten wie beim Eidgenössischen Schwingfest. Unverändert bleibt nur das Wembley-Stadion (Fussball) – aber diese Kathedrale des Weltsportes ist nicht für die Olympischen Spiele von 2012 gebaut worden.
Am spektakulärsten verspricht die Umnutzung der Basketball-Arena mit einem Fassungsvermögen von 12 000 Fans zu werden. Die Verhandlungen mit den Organisatoren der nächsten Spiele in Rio laufen: Voraussichtlich wird die Arena zerlegt, per Schiff nach Brasilien gebracht und dort für die Spiele von 2016 wieder aufgebaut.
Rio 2016 wird anders sein. Auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Kultur und auf eine andere Weise schön. Am Ende werden wir auch nach Rio sagen: die besten, die schönsten Spiele aller Zeiten.
London 1908, London 1948, London 2012
Die Entwicklung der Olympischen Spiele zeigt sich am eindrücklichste im Vergleich der Olympischen Spiele von 1908, 1948 und 2012 in London.
Die Engländer haben 1908 und 1948 weder Profit noch Verlust erzielt. 1908 gaben sie exakt 21 591 Pfund aus und nahmen die gleiche Summe ein. 1948 waren es 761 688 Pfund Einnahmen und Ausgaben. 2012 wird der Gesamtaufwand auf 9,3 Milliarden Pfund geschätzt.
Für TV-Rechte gab es 1908 und 1948 noch kein Geld. Obwohl 1948 von der B.B.C. bereits TV-Bilder für 64 Stunden und 27 Minuten für geschätzte 80 000 TV-Anschlüsse produziert worden sind. 2012 sahen weltweit rund 4,8 Milliarden TV-Zuschauer die Spiele. Für TV-Rechte werden 2,6 Milliarden Franken bezahlt.
1908 traten 2047 Sportlerinnen und Sportler (42 Frauen) aus 22 Ländern in 21 Sportarten und 110 Wettkämpfen an. 1948 waren 4109 Sportler und Sportlerinnen aus 59 Ländern in 17 Sportarten und 136 Wettbewerben. 2012 sind es 10 500 Stars aus 204 Ländern in 26 Sportarten und 302 Wettbewerben.
1908 wurden 300 000 Zuschauer gezählt, 1948 bereits 1, 247 Millionen und 2012 sind rund 10 Millionen verkauften Tickets verkauft worden.
1908 berichteten 98 Journalistinnen und Journalisten aus London. 1948 wurden 1364 Berichterstatterinnen und Berichterstatter akkreditiert, darunter 10 TV- und 262 Radio-Reporter. 2012 waren es mindestens 21 000 Chronistinnen und Chronisten.