Europa-Debatte«Bei aller Bewunderung für Ihr Talent, Herr Blocher, das lassen wir nicht zu»
Sieben Polit-Akteure hielten Plädoyers zur Frage, wie es mit der Schweiz und der EU weitergehen soll.
- von
- Claudia Blumer
Vor der Debatte zwischen Christoph Blocher und Nicola Forster hielten sieben Akteure in der Europa-Politik Plädoyers.
Darum gehts
Die Befürworter eines institutionellen Rahmenabkommens waren an der Europa-Debatte vom Dienstagabend in der Mehrzahl.
Economiesuisse-Chefin Monika Rühl, Professorin Christa Tobler, Unternehmer Jobst Wagner und Sanija Ameti von Operation Libero sind dafür.
Dagegen: SVP-Politikerin Camille Lothe. Auch Gewerkschafter Luca Cirigliano ist kritisch.
Der SVP geht es um Zuwanderung und die direkte Demokratie. Der Gewerkschaft um Lohnschutz.
Chef-Lobbyistin Monika Rühl: «Kennen Sie Vladimir und Estragon? Die Hauptfiguren aus Becketts Stück, die auf Godot warten. Ihre Gespräche sind nur Zeitvertreib. Das erinnert mich an die Schweizer Europapolitik – seit dem EWR-Nein von 1992. Der Plan B, die bilateralen Verträge, liessen fast zehn Jahre auf sich warten. Dann forderte die EU ein Rahmenabkommen. Zuerst reagierte die Schweiz gar nicht, dann verhandelte sie sieben Jahre lang, schliesslich brach der Bundesrat die Verhandlungen ab. Ohne Plan B. Wir warten seit 16 Jahren und müssen weiter warten. Jetzt braucht es Entscheide. Die institutionellen Fragen müssen geklärt, der Kohäsionsbeitrag muss erhöht werden. Der Bundesrat muss ein Verhandlungsmandat verabschieden.»
SVP-Vorzeigefrau Camille Lothe: «Es ist kompliziert – das ist der Beziehungsstatus zwischen der Schweiz und der EU. Seit dem Verhandlungsabbruch herrscht Eiszeit. Für Romantiker ist das unerträglich. Mit allen Mitteln wollen sie das Feuer wieder entfachen. Doch die Liebesbeziehung ist gescheitert. Mit dem EWR wären die Volksrechte weitgehend abgeschafft worden. Bei Referenden hätten Sanktionen gedroht, über die ein Gericht in der EU entschieden hätte. Das ist, als würde die Schwiegermutter bei Beziehungsstreit richten. Die Beziehung Schweiz-EU ist toxisch. Kein Tinder-Match, sondern eine lockere LinkedIn-Vernetzung. Wir brauchen wirtschaftliche Beziehungen, aber keinen EWR, kein Rahmenabkommen und keine Heirat in Form von Beitritt.»
EU-Rechts-Professorin Christa Tobler: «Die Abkommen zwischen der EU und der Schweiz sind eine lange und erfolgreiche Geschichte. Die ersten Abkommen gab es in den Fünfzigerjahren, heute sind es weit über 100. Die Schweizer Bevölkerung steht hinter dem bilateralen Weg. Auch der Bundesrat hat wiederholt, dass dieser Weg mit Abstand die beste Lösung sei. Er weiss aber auch, dass es zeitgemässe Regeln braucht für das Funktionieren der Abkommen. Ich habe den Eindruck, wir reden nur über unsere Interessen, die andere Seite sehen wir nicht. Das sollten wir aber. Ein guter Kompromiss nützt beiden. Nur mit einem mutigen und bedeutungsvollen Schritt können wir die Bilateralen erhalten und Einbussen vermeiden, die letztlich unserem Land schaden.»
Europarechts-Professorin Christa Tobler im Gespräch mit Lena Wilczek, Reporterin bei 20 Minuten.
Lohnschützer Luca Cirigliano: «Im EU-Binnenmarkt werden Arbeitnehmende als Ware betrachtet, die der Arbeitgeber im Rahmen von Entsendungen beliebig verschieben kann. Wir sind gegenüber dem Binnenmarkt skeptisch. Der Kampf um soziale Rechte sowie die Angst vor Unterbietung der Arbeitsbedingungen spalten übrigens auch in EU-Ländern die Gesellschaft und schüren Fremdenfeindlichkeit. Wir wünschen uns eine soziale EU, die den Arbeitnehmenden nützt. Die Schweiz steht hier vor besonderen Herausforderungen, denn die Schweizer Durchschnittslöhne sind drei Mal so hoch wie jene in der EU. Wir wollen nicht Grenzen schliessen, sondern Löhne schützen. Das machen wir mit den flankierenden Massnahmen.»
Unternehmer Jobst Wagner: «Wir beschäftigen weltweit Tausende Mitarbeitende und kooperieren mit Universitäten in ganz Europa. Ich weiss, wie entscheidend der freie Marktzugang für die Schweiz ist, wie viel Wohlstand uns die Offenheit beschert hat. Nestle, ABB, Swatch und andere wurden von Einwanderern gegründet. Auch meine Familie kam vor rund 50 Jahren in die Schweiz. Als Kind lebte ich in Nordbayern, wenige Kilometer von der DDR und der tschechischen Grenze entfernt, wo der Kalte Krieg eisig präsent war. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass es in Europa wieder Krieg gibt. Wir stehen auf dem Prüfstand. Freiheit und Demokratie kann man nur gemeinsam verteidigen. Der Sonderfall Schweiz hat ausgedient.»
EU-Turbo Sanija Ameti: «Liebes Volk, Friedrich Dürrenmatt würde jetzt sagen: Die Schweiz, ein Gefängnis, in dem die Menschen frei sind im Gefängnis ihrer Neutralität. Dr. Blocher, Sie haben es wie kein anderer geschafft, zu verstehen, wie man die psychischen Schwierigkeiten eines Landes ausspielt. Sie haben es geschafft, die Schweiz im Reduit zu halten. Herr Dr. Blocher, ich bezweifle, dass mir jemand wie sie nochmals begegnet im Leben. Sie haben gezeigt, wie man eine Vision pflegt. Seit 30 Jahren verhindern Sie, dass wir in der EU Wertschöpfung generieren können und verschieben den Diskurs ins Reduit. Bei aller Bewunderung für Ihr Talent, das lassen wir nicht zu. Operation Libero stellt Ihrer Initiative die Europa-Initiative entgegen.»
Sanija Ameti, Co-Präsidentin von Operation Libero, wandte sich in ihrem Plädoyer direkt und wiederholt an «Herrn Dr. Blocher».
Politgeograf Michael Hermann: «Seit 1992 wird diskutiert und argumentiert. Am Schluss spiegeln die Diskussionen immer die Seele der Menschen, wie sie ohnehin denken und fühlen. Ich fand, die Schweiz müsse dynamischer und offener werden, wir müssten uns besser integrieren. Doch jetzt sehe ich: Wir sind ja immer noch recht gut unterwegs, obwohl wir das nicht gemacht haben. Heisst das, Durchwursteln bringt unser Land zum Erfolg? Wir müssen vorsichtig sein mit Forderungen betreffend Steuerung der Zuwanderung und Social Engineering. Die Personenfreizügigkeit ist ein Teil des Ungesteuerten. Gerade Sie, Herr Blocher, sind offenbar recht gut unterwegs in der offenen Schweiz. Das müssen wir bedenken in der nächsten Debatte.»
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