Jacqueline Fehr im Interview«Die wachsende Zahl junger Afghanen ist eine grosse Herausforderung»
In Berlin zeigte sich an Silvester unfassbare Gewalt gegen Polizei, Sanität und Feuerwehr durch mehrheitlich ausländische Jugendliche. Die Zürcher Justizdirektorin erklärt, was sie tut, damit es hier nicht so weit kommt.
- von
- Daniel Graf
Feuer frei auf alles und jeden: Diese Szenen spielten sich an Silvester in Berlin ab.
Darum gehts
Chaos, Zerstörung und Gewalt gegen Beamte erschütterten in der Silvesternacht Berlin.
Auch in Zürich kam es jüngst zu mehr Gewalt gegen Beamte, die Jugendkriminalität hat sich seit 2015 mehr als verdoppelt.
Die Justizdirektorin Jacqueline Fehr ist trotzdem zuversichtlich: «Wir haben alle Instrumente für eine erfolgreiche Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Hand.»
Fehr ist überzeugt: «Auch in zehn Jahren werden wir in der Schweiz mehr über das Feuerwerksverbot sprechen als über Jugendkriminalität und Ghettoisierung.»
Auch vier Tage nach Silvester sorgen die Bilder der Strassenschlachten in Berlin weiter für Empörung und Unglaube. Die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr erklärt im Interview, weshalb sie überzeugt ist, dass es in der Schweiz nicht so weit kommen wird wie in manchen europäischen Städten – und welche Warnzeichen wir trotzdem ernst nehmen sollten.
Drohen Ereignisse wie die Silvesternacht in Berlin auf die Schweiz überzuschwappen?
Wir haben keine Anzeichen, die darauf hindeuten. In der Schweiz gibt es viel weniger Jugendliche, die ohne Arbeit und Perspektiven herumhängen. Das verdanken wir einer erfolgreichen Integrationspolitik und der Bildungspolitik mit einem sehr guten Berufsbildungsangebot und unserem Jugendstrafrecht. Auch die Stadtraumpolitik, die Ghettoentwicklungen verhindert, hilft hier.
Funktioniert das? Wie 20 Minuten weiss, haben erst vor wenigen Tagen in Seebach mehrere Dutzend ausländische Jugendliche Leute angepöbelt und bedroht. Ein Anwohner überlegt sich, wegzuziehen.
Das sind Warnzeichen, die wir ernst nehmen müssen und denen wir entgegenwirken wollen. Zürich hat den Vorteil, dass der Anteil an städtischen und genossenschaftlichen Wohnungen in der ganzen Stadt, auch an den Rändern, hoch ist. Das fördert die Durchmischung und wirkt der Ghettoisierung entgegen.

Jacqueline Fehr ist seit 2015 Vorsteherin der Direktion der Justiz und des Innern.
«Gewalt lässt sich nicht nur auf das Thema Migration reduzieren.»
Auch rund um die Bahnhöfe Stadelhofen und Oerlikon kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Ausländern.
Gewalt gibt es in jeder Gesellschaft. Sie lässt sich nicht auf das Thema Migration reduzieren. Entscheidend ist, wie schnell man darauf reagiert. Es gelingt uns, solche Ereignisse rasch aufzulösen und die steigende Jugendkriminalität wieder einzudämmen. Auch dank eines Jugendstrafrechts, das nicht nur auf Bestrafung ausgelegt ist, sondern Erziehungsdefizite angeht und Jugendliche zurück auf einen deliktfreien Weg bringt.
Trotzdem hat sich die Jugendgewalt im Kanton Zürich zwischen 2015 und 2021 mehr als verdoppelt.
Die Jugendgewalt bewegt sich in Wellen. Nimmt sie zu, intervenieren wir stärker und können die Entwicklung so stoppen. Im Vergleich zu 2021 hat die Jugendgewalt im letzten Jahr wieder um ein Viertel abgenommen. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Spitze dieser Welle überwunden haben.
«Gegner der Corona-Massnahmen machen uns mehr Sorgen als Jugendliche.»
Auch die Gewalt gegen Beamte nimmt zu.
Hierfür sind aber nicht in erster Linie die Jugendlichen verantwortlich. Vielmehr zeigt sich bei gewissen Erwachsenen eine zunehmende Aggression gegen Behörden. So haben sich zum Beispiel die Gegner der Corona-Massnahmen, die sich nichts mehr vorschreiben lassen wollen, zum Teil vehement und aggressiv gegen den Staat gerichtet. Sie machen uns mehr Sorgen als Jugendliche.
Wie sieht das bei Gewaltdelikten aus, die sich nicht gegen Beamte richten?
Gewalt geht von Menschen aus, die Zurückweisung und Vernachlässigung erfahren haben, die keine Anerkennung finden. Sie üben Gewalt aus, um sich mächtig zu fühlen. Dahinter stecken komplexe soziale und kulturelle Elemente, der Migrationshintergrund kann eines davon sein. Darum ist es wichtig, präventiv an diesen Themen zu arbeiten.
Wie?
Etwa indem wir in der Jugendarbeit viele Mitarbeitende einsetzen, die selber Migrationshintergrund haben. So gelingt es uns immer wieder, selbst Jugendliche, die zwischenzeitlich kaum ansprechbar sind, wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Eine wichtige Rolle nehmen hier auch religiöse Gemeinschaften und der Sport ein. Auch deshalb haben wir eine Ausbildung für Imame mitentwickelt, die sich unter anderem mit solchen Aspekten befasst.
«Wir haben seit 2015 Zehntausende junge Menschen in die Gesellschaft und das Arbeitsleben integriert.»
Die Probleme dürften mit den vielen Asylgesuchen nicht kleiner werden.
Das ist so, insbesondere die wachsende Anzahl junger Männer aus Afghanistan stellt eine grosse Herausforderung dar. Um zu überleben, haben sich viele von ihnen auf der Flucht Verhaltensweisen antrainiert, die mit unseren Rechtsnormen kollidieren.
Wie lange geht das noch gut?
Ich bin zuversichtlich. Die Asylreform von 2015/2016 der ehemaligen Bundesrätin Simonetta Sommaruga ermöglicht saubere Rechtswege und schnelle Entscheide. Wir wissen, wer im Land ist und wo die Leute leben. Die guten Verhältnisse in der Schweiz sind Resultat engagierter, zäher politischer und gesellschaftlicher Arbeit. Selbstverständlich gibt es immer Herausforderungen und Ausnahmen, bei denen das nicht klappt, aber: Wir haben seit 2015 Zehntausende junge Menschen in die Gesellschaft und das Arbeitsleben integriert.
Im Oktober stand das Zentrum Lilienberg in der Kritik. Es sei überbelegt und es fehle Personal. Es befanden sich 90 unbegleitete Minderjährige dort. Ist das nicht der perfekte Nährboden für falsche Sozialisierung?
Das ist ein gutes Beispiel: Ja, es gab dort Probleme. Das Sozialamt hat aber schnell reagiert, der Kantonsrat hat Geld gesprochen und das Personal wurde aufgestockt. Wir profitieren von kurzen Wegen, einer guten Zusammenarbeit aller Akteure und einer unbürokratischen Verwaltung. Wir haben alle Instrumente für eine erfolgreiche Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Hand. Wir müssen auf sie vertrauen und sie konsequent nutzen.
…und so verhindern wir, dass es bei uns an Silvester 2033 aussieht wie dieses Jahr in Berlin?
Wenn wir den eingeschlagenen Weg weitergehen, bin ich zuversichtlich, dass uns auch in den nächsten zehn Jahren das Feuerwerksverbot noch mehr beschäftigen wird als Jugendkriminalität, Ghettoisierung und Angriffe auf Polizei, Feuerwehr und Sanität.
Jacqueline Fehr (59, SP) ist seit 2015 Direktorin der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, der unter anderem die Fachstelle Integration, die Jugendstrafrechtspflege sowie der Justizvollzug und die Wiedereingliederung unterstehen.
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