Schweizerin im Mittelmeer : «Ein Baby zu retten, hat mich sehr berührt»

Aktualisiert

Schweizerin im Mittelmeer «Ein Baby zu retten, hat mich sehr berührt»

Die 21-Jährige Nina Gassmann rettet vor Malta Flüchtlinge aus dem Mittelmeer. Ihr Engagement ist Einigen aber ein Dorn im Auge.

von
P. Michel

Im Herbst 2017 war Nina Gassmann vor der griechischen Insel Lesbos im Einsatz. (Video: Facebook)

Frau Gassmann, Sie sind für Sea-Watch auf Malta im Einsatz, eine Organisation, die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettet. Wie viele waren es diese Woche?

Das schlechte Wetter machte uns in den letzten Tagen zu schaffen. Zudem ist unsere Propellermaschine, mit der wir Aufklärungseinsätze fliegen und Boote lokalisieren, gerade erst aus der Reparatur gekommen. Letzten Monat konnten wir deshalb keine Rettungsaktionen durchführen. Seit Anfang Jahr konnten wir 1000 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer bergen. Und ich rechne damit, dass es mit den steigenden Temperaturen und damit ruhigeren Gewässern nun stetig mehr werden.

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Die Zürcherin Nina Gassmann (21) ist seit acht Monaten für die die Organisation Sea-Watch im Mittelmeer im Einsatz.

Die Zürcherin Nina Gassmann (21) ist seit acht Monaten für die die Organisation Sea-Watch im Mittelmeer im Einsatz.

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Sea-Watch konnte in diesem Jahr 1000 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer bergen. «Ich rechne damit, dass es mit den steigenden Temperaturen und damit ruhigeren Gewässern nun stetig mehr werden», sagt Gassmann.

Sea-Watch konnte in diesem Jahr 1000 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer bergen. «Ich rechne damit, dass es mit den steigenden Temperaturen und damit ruhigeren Gewässern nun stetig mehr werden», sagt Gassmann.

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«Ich war schon immer eine Person, die Menschen helfen wollte, auch wenn ich dabei in Extreme Situationen komme», erzählt Gassmann. Derzeit fliegt sie Aufklärungsflüge vor Malta.

«Ich war schon immer eine Person, die Menschen helfen wollte, auch wenn ich dabei in Extreme Situationen komme», erzählt Gassmann. Derzeit fliegt sie Aufklärungsflüge vor Malta.

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Sie arbeiten auf Malta für Sea-Watch, derzeit als Einsatzleiterin für die Luftaufklärungsmission. Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?

Meinen ersten Einsatz im Mittelmeer leistete ich im Herbst 2017 auf Lesbos. Damals war ich direkt bei der Seenotrettung dabei: Die Menschen beruhigen, Schwimmwesten verteilen, den Transport nach Italien organisieren. Jetzt arbeite ich seit acht Monaten Vollzeit, um Flüchtende zu unterstützen und seit diesem Monat für Moonbird, ein Aufklärungsflugzeug. Dort geht es darum, zusammen mit einem Piloten auf dem Mittelmeer treibende Flüchtlingsboote zu identifizieren und deren Standort an Rettungsschiffe weiterzugeben.

In der öffentlichen Wahrnehmung scheint der grosse Flüchtlingsstrom übers Mittelmeer vorüber. Wie ist die Situation derzeit vor Ort?

Die Tragödie im Mittelmeer nimmt weiter ihren Lauf. Wir haben im letzten Jahr zwischen Libyen und Italien so viele Flüchtlinge gerettet wie während der grossen Krise im Jahr 2015. Dieses Jahr sind bereits 550 Menschen ertrunken. Was sich geändert hat: Die libysche Küstenwache behindert uns massiv bei unserer Arbeit. Sie fangen nicht nur illegal Boote in internationalen Gewässern ab und verstossen gegen internationales Recht, sie beschiessen unsere Rettungsboote. Die Küstenwache will verhindern, dass wir die Flüchtlinge nach Italien bringen, dafür bezahlt schliesslich die «Festung Europa». Dabei sind wir verpflichtet, alle Personen zu retten, die in internationalen Gewässern, also 24 Kilometer weg von der Küste, gefunden werden. Die libysche Küstenwache stattdessen bringt sie in Lager, in denen menschenverachtende Zustände herrschen.

Die libysche Küstenwache sieht das anders: Sie wirft den Rettern vor, in ihre Hoheitsgewässer, also in die Zone 12 Kilometer vor der Küste, einzudringen und ihre Arbeit zu behindern.

Dieser Vorwurf ist absolut haltlos. Unsere Rettungsschiffe bewegen sich maximal dreissig, in der Regel 35 Kilometer vor der libyschen Küste. Das sind internationale Gewässer. Wir erleben im Gegenteil, dass die libysche Küstenwache sich aus ihrem Korridor heraus begibt und Flüchtlingsboote zwingt, nach Libyen zurückzukehren.

Ein weiterer Vorwurf an Sea-Watch: Ihr macht gemeinsame Sache mit den Schleppern. Denn die werden durch ihre Rettungen ermutigt, weiter Flüchtlinge in lebensgefährliche Situationen zu bringen.

Auch hier muss ich vehement widersprechen: Keinesfalls arbeiten wir mit Schleppern zusammen. Sie stecken Flüchtende in Lager und prügeln sie mit Eisenstangen, um sie davon abzuhalten, zu unseren Schiffen zu schwimmen. Das ist unmenschlich und ich verurteile diese Gewalt aufs Schärfste. Fakt ist: Es hat Gründe, dass Libyen nicht als sicheres Herkunftsland gilt. Die Lage in Libyen ist so desolat, dass die Leute dort keine Perspektiven mehr haben und auch eine Fahrt in den fast sicheren Tod in Kauf nehmen. Die Schlepper profitieren davon und machen ein Riesengeschäft. Ob wir mit unseren Schiffen da sind oder nicht, das ist den Schleppern völlig egal.

Welches Erlebnis aus Ihrer Zeit bei der Seenotrettung ist Ihnen am meisten geblieben?

Während meines Einsatzes im Mittelmeer hatten wir 263 Menschen gerettet. Natürlich geht einem das Schicksal jedes einzelnen Menschen nahe. Die meisten haben keine Schuhe oder Kleider und sitzen in Booten, die mit Fäkalien gefüllt sind. Das hat mich schockiert. Eine Situation ist mir aber besonders in Erinnerung geblieben: Die Insassen eines Bootes riefen uns zu, dass sich ein Neugeborenes unter ihnen befinde. Tatsächlich gebar im Boot eine Frau eine Stunde vor unserer Ankunft ihr Kind. Das Baby in den Armen zu halten und die Erleichterung der Mutter zu sehen, die nicht mehr ans Überleben geglaubt hatte, hat mich sehr berührt.

Sie sind nun seit acht Monaten ehrenamtlich auf Malta im Einsatz. Wie finanzieren Sie sich?

Weil ich es nicht verantworten kann, in der Schweiz zu sitzen und nichts zu tun, nutze ich dafür meine Ersparnisse. Bei Sea-Watch arbeiten fast alle ehrenamtlich und die Crewmitglieder nutzen ihre Urlaubstage für die Missionen. Ich habe das grosse Glück, dass mich meine Eltern und Grosseltern finanziell und moralisch unterstützen. Sie finden es wunderbar, dass ich mich engagiere. Die Familie ist wichtig, denn die psychische Belastung ist gross. Ich lege deshalb immer wieder Pausen ein, um mich vom ganzen Elend abzugrenzen. Zwischendurch komme ich für eine Auszeit in die Schweiz: Beim Skifahren oder mit Freunden kann ich abschalten.

Sie sind 21. In Ihrem Alter haben viele andere Prioritäten, als in die Freizeit auf einem Rettungsschiff zu verbringen. Was treibt Sie an?

Ich war schon immer eine Person, die Menschen helfen wollte, auch wenn ich dabei in extreme Situationen komme. Auch bei der Seenotrettung komme ich an meine Grenzen. Hier kann ich tatsächlich etwas bewirken.

Nina Gassmann (21) ist in Wädenswil aufgewachsen und lebt in Samstagern. Sie sitzt im Vorstand der Jungen Grünen Zürich.

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