Vorwürfe gegen Russland«Eine Stufe unter der Atombombe»
Der Konflikt in Syrien wird mit immer brutaleren Methoden geführt. Nun soll Russland eine besonders verheerende Waffe in Aleppo eingesetzt haben.
- von
- ofi
Knapp eine Woche hielt die letzte, brüchige Waffenruhe in Syrien. Vor einer Woche ging sie zu Ende und seither haben sich die an dem Konflikt beteiligten Parteien nicht auf eine Rückkehr zum Waffenstillstand einigen können – im Gegenteil. Zuletzt häuften sich die Meldungen über Bombenangriffe, einen gezielt zerstörten Hilfskonvoi, Hunderte von getöteten Zivilisten und Gräueltaten hüben wie drüben.
Insbesondere im Grossraum um die Stadt Aleppo brachen immer wieder heftige Kämpfe aus. Am vergangenen Donnerstag etwa berichtete die oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die syrische Luftwaffe werfe Fassbomben über Aleppo ab und Russland unterstütze die Verbündeten mit Luftangriffen. Im Bezirk Fardus seien zehn Zivilisten getötet und Dutzende weitere verletzt worden.
Internationale Verhandlungen bleiben fruchtlos
Immer wieder verhandelten die Aussenminister verschiedener Länder am Rande der UNO-Vollversammlung in New York über das weitere Vorgehen im Syrien-Konflikt. Während US-Aussenminister John Kerry am Freitag, 23. September, sagte, er sei «frustrierter» als am Tag zuvor, antwortete sein russischer Amtskollege Sergej Lawrow auf die Frage, ob es eine Vereinbarung gebe: «Nichts ist passiert.» Der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier berichtete von einer «sehr offenen, sehr kontroversen» Diskussion innerhalb der Gruppe. Normalerweise ist das eine Umschreibung dafür, dass gegenseitig massive Vorwürfe erhoben wurden.
US-Aussenminister John Kerry spricht über den Konflikt in Syrien.
US-Aussenminister John Kerry spricht über den Konflikt in Syrien. (Video: YouTube/U.S. Department of State via Storyful)
Zerstörerisches Waffensystem bei Aleppo im Einsatz?
Die britische «Sunday Times» erhob schwere Vorwürfe gegen Russland, indem sie schrieb, Putins Armee setze bei Aleppo ein Waffensystem ein, das «eine Stufe unter der Atombombe» anzusiedeln sei. Die TOS-1 A ist ein Raketenabschusssystem, dessen Geschosse Unterdruckexplosionen auslösen und in einem Radius von rund 200 Metern der Luft den Sauerstoff entzieht und ihn verbrennt. «Jeder innerhalb dieses Radius wird lebendig verbrannt», beschreibt die Zeitung die Zerstörung.
Die «Times» zitiert zudem Diplomaten, die sagten, das Waffensystem sei mit ziemlicher Sicherheit in der Nähe von Aleppo stationiert. Das Blatt belegt seine Berichterstattung unter anderem auch mit Videomaterial, das aus Syrien stamme und die TOS-1 A im Einsatz zeigt. Bisher gab es erst vereinzelte Meldungen, dass die Waffe gegen die Terrormiliz Islamischer Staat eingesetzt worden sei.
Dazu passt eine Aussage des UNO-Sonderbeauftragten für Syrien, Staffen de Mistura. Dieser sagte am Sonntag: «Wir haben Berichte, Videos und Bilder von gemeldeten Brandbombeneinsätzen gesehen, die so gewaltige Feuerbälle erzeugen, dass sie die pechschwarze Dunkelheit in Ost-Aleppo erleuchten, als ob es Tag wäre. Zivilisten überall in der Stadt müssen sich fragen, wo sie in dieser gequälten Stadt noch sicher sind.»
Brandbomben schlagen in der Stadt Huraytan ein. Wer die Bomben abgefeuert hat, ist nicht bekannt. (Video: YouTube/Thiqa Agency via Storyful)
Humanitäre Lage in Aleppo wird immer schlimmer
In Aleppo warten währenddessen rund 250'000 Menschen in von Rebellen kontrollierten Stadtteilen seit Juli auf Hilfsgüter internationaler Organisationen. Die Gebiete sind von Regierungstruppen eingeschlossen und selbst während der Waffenruhe konnten Hilfskonvois nicht in das Gebiet vorstossen, wie die UNO erklärte. Fast zwei Millionen Menschen in der syrischen Stadt seien zudem von der Wasserversorgung abgeschnitten.
Russische und syrische Kampfflugzeuge haben am Sonntag ein palästinensisches Flüchtlingslager nahe Aleppo bombardiert, das die Armee kurz zuvor an die Rebellen wieder verloren hatte. Das bestätigten sowohl die Aufständischen als auch das syrische Militär. Handarat ist strategisch bedeutsam, da es auf einer Anhöhe liegt, von der aus wichtige Zufahrtsstrassen nach Aleppo eingesehen werden können. Nach Darstellung der Rebellen setzten die Regierungstruppen auch Phosphor-Brandbomben ein.
Briten und Russen machen sich gegenseitig schwere Vorwürfe
Für rote Köpfe sorgt immer noch der Angriff auf einen Konvoi mit Hilfsgütern vor rund einer Woche. Der britische Aussenminister Boris Johnson hat Ermittlungen gegen Russland wegen Kriegsverbrechen gefordert. Die russische Luftwaffe habe den zivilen Konvoi möglicherweise absichtlich ins Visier genommen, erklärte Johnson am Sonntag. Russland hat eine Beteiligung an dem Angriff dementiert und hält stattdessen syrische Rebellen oder eine US-Drohne für die möglichen Urheber.
Die russische Aussenamtssprecherin Maria Sacharowa reagierte auf Facebook auf die Aussagen: Johnson habe gesagt, «dass Russland schuldig sei, den Bürgerkrieg in Syrien zu verlängern und, möglicherweise, Kriegsverbrechen in der Form von Luftangriffen auf Konvois mit humanitärer Hilfe begehe. All das ist richtig, bis auf zwei Wörter: Anstatt ‹Russland› muss es ‹Grossbritannien› heissen und anstatt ‹Syrien› ‹Irak›.»
Kein Anti-Terror-Einsatz, sondern Barbarei
Am Sonntag kochten die Emotionen selbst im UNO-Sicherheitsrat hoch, als sich Russland und die westlichen Staaten gegenseitig die Schuld für die Eskalation der Gewalt zuschrieben. Die USA äusserten bei einer Dringlichkeitssitzung scharfe Kritik an Russland. Das Land betreibe in Aleppo «keinen Anti-Terror-Kampf, sondern Barbarei,» sagte die UNO-Botschafterin der USA, Samantha Power, am Sonntag.
Immerhin gab es in der Nacht auf Montag auch positive Nachrichten aus dem kriegsversehrten Syrien: Vier eingeschlossene Städte haben nach Angaben des Roten Kreuzes erstmals seit fast sechs Monaten Hilfslieferungen erhalten. Es handelt sich um Madaja und Sabdani nahe der Hauptstadt Damaskus sowie um Fua und Kefraja in der Provinz Idlib. Insgesamt 70 Lastwagen hätten Hilfsgüter geliefert, teilte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) am Sonntag mit.
Zum ersten Mal seit Monaten erreichen Hilfsgüter mehrere syrische Städte, unter anderem Madaya und Zabadani.
Ein Konvoi mit Hilfsgütern erreicht die Städte Madaya und Zabadani. (Video: YouTube/War Media via Storyful) (ofi/sda)