Entsetzen über Mord auf offener Strasse
Zum fünften Mal in zwei Jahren ist im Libanon ein prominenter Syrienkritiker ermordet worden: Industrieminister Pierre Gemajel wurde nahe Beirut erschossen. Das Attentat löste international Besorgnis aus.
Der 34-jährige Gemajel war am Dienstagnachmittag mit seinem Auto in der Beiruter Vorstadt Dschdeideh unterwegs - in diesem christlichen Wohngebiet am Nordrand der libanesischen Hauptstadt lag auch der Wahlkreis des Politikers. Sein Auto wurde von einem anderen Fahrzeug gerammt, wie Augenzeugen berichteten. Der Täter stieg aus und erschoss den Politiker aus kurzer Distanz. Die Fahrerseite des Autos wies fast ein Dutzend Einschusslöcher auf. Gemajel wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo nur noch sein Tod festgestellt werden konnte, wie die christliche Phalange-Partei mitteilte.
Das Attentatsopfer war der Sohn des ehemaligen Präsidenten Amin Gemajel, der von 1982 bis 1988 amtierte. Sein Grossvater Pierre Gemajel führte die Phalange im Bürgerkrieg von 1975 bis 1990.
Politische Beobachter erwarten, dass das Attentat die politischen Spannungen im Libanon weiter verschärfen wird. Die Phalange-Partei gehört der antisyrischen Parlamentsmehrheit an, die in den vergangenen Tagen einen erbitterten Machtkampf mit der prosyrischen Hisbollah führte. Diese hat mit dem Sturz der Regierung gedroht, falls sie kein grösseres Mitspracherecht im Kabinett erhält.
Der politische Führer der antisyrischen Mehrheit, Saad Hariri, brach nach der Nachricht vom Attentat auf Gemajel eine Pressekonferenz ab. Er würdigte Gemajel als guten Freund und sagte den Tränen nahe, es werde alles getan, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Hariri, der Sohn im Februar 2005 ermordeten Politikers Rafik Hariri, machte die Regierung in Damaskus für die Tat verantwortlich: «Wir glauben, dass die Hand Syriens dabei war.» Auch die syrische Regierung verurteilte jedoch das Attentat und sprach von einem abscheulichen Verbrechen, das Frieden und Stabilität im Libanon gefährde.
Bundesaussenminister Frank-Walter Steinmeier appellierte an alle Kräfte im Libanon und in der Region, ihrer Verantwortung gerecht zu werden «und alles zu unterlassen, was die innenpolitische Lage im Libanon weiter destabilisiert.» Das Attentat stelle offenbar einen weiteren Versuch dar, die unabhängige und demokratische Entwicklung des Landes zu sabotieren. Die Hintergründe des Attentats müssten aufgeklärt, die Schuldigen bestraft werden.
Das US-Aussenministerium sprach von einem Terroranschlag mit dem Ziel, die Regierungskoalition ins Wanken zu bringen. Staatssekretär Nicholas sagte, eine Spaltung des Libanons dürfe nicht zugelassen werden. US- Präsident George W. Bush sagte: «Heute haben wir wieder die böse Fratze derer gesehen, die die Freiheit verachten.» Die britische Aussenministerin Margaret Beckett äusserte sich besorgt über die möglichen Folgen des Anschlags. Auch der EU-Aussenbeauftragte Javier Solana verurteilte die Ermordung Gemajels. «Die Urheber dieses feigen Attentats müssen ausfindig gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden», erklärte Solana in Brüssel. «Der Libanon muss für seinen Willen, in Frieden und Unabhängigkeit zu leben, erneut einen hohen Tribut zahlen. In meinem eigenen Namen und im Namen der Europäischen Union würdige ich den Mut und der Entschlossenheit all derer, die sich für die Unabhängigkeit und die Einigkeit des Libanons einsetzen.»
Bern verurteilt Anschlag
Auch die Schweiz hat den tödlichen Anschlag auf den libanesischen Industrieminister Pierre Gemayel scharf verurteilt. Man hoffe, dass die Täter rasch identifiziert, gefasst und der Justiz zugeführt würden, sagte Jean-Philippe Jeannerat, Informationschef beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), am Dienstag auf Anfrage.
Die Schweiz unterstütze weiterhin die Friedens- und Stabilisierungsbemühungen des libanesischen Regierungschefs Fuad Siniora, betonte Jeannerat. Das Attentat vom Dienstag sei nicht nur ein politischer Mord, sondern unterlaufe auch Sinioras Friedensbemühungen.
(ap/sda)
Chronik der Attentate im Libanon
In den vergangenen zwei Jahren wurden wiederholt Anschläge auf Politiker oder Intellektuelle aus dem antisyrischen Lager im Libanon verübt, wie folgende Chronik dokumentiert:
14. Februar 2005: Der frühere Ministerpräsident Rafik Hariri wird bei einem Bombenanschlag getötet. Die Opposition macht die libanesische und syrische Regierung verantwortlich, beide weisen die Anschuldigungen zurück.
2. Juni 2005: Der antisyrische Journalist und Aktivist Samir Kassir kommt bei einem Anschlag ums Leben. Unter seinem Auto war eine Bombe platziert.
21. Juni 2005: Der antisyrische Politiker und frühere kommunistische Parteichef George Hawi fällt einem Bombenanschlag zum Opfer. Auch unter seinem Wagen war ein Sprengsatz deponiert.
12. Juli 2005: Der stellvertretende Ministerpräsident und Verteidigungsminister Elias Murr überlebt einen Autobombenanschlag. Murr gilt als prosyrisch, erklärt aber später, er sei vom syrischen Geheimdienstchef im Libanon bedroht worden.
25. September 2005: Unter dem Auto der prominenten Journalistin May Chidiac vom syrienkritischen Fernsehsender LBC explodiert eine Bombe. Chidiac wird schwer verletzt und verliert einen Arm und ein Bein.
12. Dezember 2005: Der antisyrische Journalist und Politiker Gibran Tueni kommt bei einem Autobombenanschlag ums Leben.
21. November 2006: Der christliche Politiker Pierre Gemajel wird in seinem Wahlkreis bei Beirut erschossen.