Ein Betroffener erzählt: «Er wäre trotz Absperrung gesprungen»

Aktualisiert

Ein Betroffener erzählt«Er wäre trotz Absperrung gesprungen»

Marc hat vor zehn Jahren seinen Bruder verloren – dieser warf sich mit 17 Jahren vor einen Zug. Von kostspieligen Präventionsmassnahmen hält der Betroffene trotzdem nicht viel.

S. Marty
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S. Marty

Marc*, vor zehn Jahren beging Ihr Bruder Selbstmord ... Es war der Tag nach meinem Geburtstag. Unsere Familie wollte damals gerade in den Süden in die Ferien fahren. Mein Bruder ging allerdings schon früh unbemerkt aus dem Haus und warf sich vor den Zug. Dieser Tag ist mir auch heute noch sehr präsent. An seinem Todestag gehe ich beispielsweise nie arbeiten und unternehme dann etwas in Gedanken an ihn.

Wie haben Sie den Moment erlebt, als Sie diese Schocknachricht erhielten?

Ich war noch im Bett, weil ich am Vorabend meinen Geburtstag feierte und spät nach Hause kam. Als mich meine Eltern an den Tisch baten und mir erzählten, dass die Polizei unseren Bruder auf den Gleisen gefunden habe, realisierte ich es nicht richtig. Ich ging danach sogar nochmals wie in Trance schlafen, da ich immer noch müde war vom Vorabend und die Nachricht nicht glauben wollte. Erst allmählich brach meine Welt zusammen. Relativ schnell mussten wir danach aber alle einfach nur funktionieren. Es galt, Freunde und Verwandte zu informieren, die Beerdigung zu organisieren. Die Trauer und die Verarbeitung folgten erst später, dauerten dafür aber Jahre an.

Kam der Suizid Ihres Bruders für Sie überraschend oder gab es Anzeichen für seine Tat?

Wir waren alle nicht sehr überrascht. Mein Bruder hatte bereits ein Jahr zuvor einen Suizidversuch überlebt. Er wurde danach in einer Psychiatrie behandelt und wollte nach den Sommerferien eine neue Lehre beginnen. Wir dachten eigentlich, es gehe aufwärts. Mein Bruder litt an einer schizophrenen Störung, hörte Stimmen. Irgendwann zog er sich immer mehr zurück, war durch die Medikamente ständig müde. Ich glaube, er hatte Angst, irgendwann nur noch fremdgesteuert zu werden, und wollte diesen Zustand lieber frühzeitig beenden – dies ist zumindest meine persönliche Interpretation. Einen Abschiedsbrief hinterliess er uns nicht.

Das Parlament hat sich in der aktuellen Session für eine stärkere Suizidprävention in der Schweiz ausgesprochen. Glauben Sie, Absperrungen entlang der Gleise hätten Ihren Bruder gerettet?

Nein, das glaube ich nicht. Mein Bruder hätte sich auch trotz solcher Absperrungen vor den Zug geworfen. Vermutlich wäre er einfach zu einem ungesicherten Bahnabschnitt gelaufen und hätte es dort getan. Er hat seinen Suizid minutiös geplant, es war ziemlich sicher keine Kurzschlussreaktion. Bereits einen Tag vorher stellte er sein Velo bereit, um am Morgen auch ja niemanden zu wecken, er stieg dazu auch extra aus dem Fenster, statt die Tür zu benutzen. Mein Bruder wollte sich umbringen, niemand und nichts konnte ihn davon abhalten.

Studien beweisen aber, dass viele Suizide im Affekt begangen werden. Denken Sie nicht, Schutznetze an Brücken, Plakatkampagnen oder Notruftelefone an exponierten Stellen könnten die Suizidrate in der Schweiz verringern?

Ich denke, Personen, die sich wirklich umbringen wollen, werden immer einen Weg finden, dies zu tun. Da nützt auch Prävention nichts. Bei einer Kurzschlussreaktion können solche Massnahme eventuell schon helfen. Die Frage ist halt immer, wie viel Geld man dafür ausgeben will.

Sie sehen die Sache sehr rational – waren Sie denn nie wütend auf Ihren Bruder, weil er Sie verlassen hat?

Ich war weder wütend, noch hatte ich Schuldgefühle. Ich bin der Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht hat, selbst über sein Leben zu entscheiden. Klar, Suizid ist immer etwas sehr Egoistisches. Für meinen Bruder war es aber anscheinend die einzige Lösung, das muss ich akzeptieren. Das Schlimme war für mich eher, dass ich mich bereits so früh mit dem Thema Tod respektive Suizid auseinandersetzen musste. Andererseits weiss ich aber auch nicht, ob ich ohne diesen Schicksalsschlag heute zu solch einem bewusst lebenden und aktiven Menschen geworden wäre.

Wie geht es Ihnen heute, zehn Jahre nach diesem Ereignis?

Mittlerweile dreht sich meine Welt wieder gleich schnell wie vor seinem Suizid und die Tat ist nicht mehr jeden Tag präsent. Doch die Verarbeitung dauerte Jahre. Heute leite ich im Rahmen von Lifewith Workshops für Betroffene zwischen 14 und 30 Jahren. Ich finde es wichtig, meine Erfahrungen mit andern zu teilen und sie bei diesem Verarbeitungsprozess zu unterstützen.

*Name geändert

Bundesrat muss handeln

Das Parlament verlangt vom Bundesrat einen Aktionsplan zur Suizidprävention. Nach dem Nationalrat hat auch der Ständerat einer entsprechenden Motion zugestimmt. Der Vorstoss von EVP-Nationalrätin Maja Ingold verlangt, dass der Bundesrat bei den Hauptrisiken Depression und soziale Isolation ansetzt. Dies sind in der Schweiz die weitaus häufigsten Gründe für einen Suizid. Der Bundesrat hatte die Motion abgelehnt mit dem Hinweis auf verschiedene Präventionsprojekte, die der Bund bereits unterstütze. Gesundheitsminister Alain Berset wies auch darauf hin, dass für weitergehende Massnahmen die gesetzliche Grundlage fehle, weil das Parlament das Präventionsgesetz abgelehnt habe. SDA

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