Türkei-Proteste: «Erdogan war schon immer ein Autokrat»

Aktualisiert

Türkei-Proteste«Erdogan war schon immer ein Autokrat»

Türkei-Kenner Gareth Jenkins beobachtet Premierminister Erdogan – und seine Herrschsucht – seit Jahren. Gleichzeitig warnt er, was nach ihm kommen könnte.

von
Kian Ramezani

Sie verfolgen die türkische Politik seit Jahrzehnten. Haben Sie Erdogans Wandlung vom Demokraten zum Autokraten vorhergesehen?

Gareth Jenkins: Seine harte Reaktion auf die Proteste traf mich, wie alle hier, unvorbereitet. Nicht so sein autoritärer Regierungsstil. Ich schrieb bereits 2003 nach dem Erdrutschsieg der AKP, wir sollten uns nicht so sehr über ihre islamistische, sondern über ihre autoritäre Agenda Sorgen machen – vor allem, was Erdogan anbelangt.

Worauf gründete Ihre Vorahnung?

Anzeichen auf Herrschsucht und Intoleranz gab es schon in seiner Zeit als Bürgermeister von Istanbul. Nach Verbüssung einer viermonatigen Gefängnisstrafe (wegen öffentlichem Rezitieren eines Gedichts mit islamistischem Inhalt, Anm. d. Red.) 1999 wurde Erdogan allerdings handzahmer. Er gab ausländischen Journalisten wie mir Interviews, was er zuvor niemals getan hatte. Ich fragte ihn damals, woher diese Veränderung rühre. Er antwortete: «Wir haben unsere Lektion gelernt.»

Was meinte Erdogan damit?

Das fragte ich ihn auch: «Haben Sie gelernt, dass Sie ihre Absichten besser verbergen müssen? Oder dass Sie demokratischer werden müssen?» Ich wiederholte diese Frage viermal. Er gab mir keine Antwort. Um auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen: Erdogan hat sich nicht vom Demokraten zum Autokraten gewandelt. Er war schon immer ein Autokrat.

Trotzdem scheint es mit der Zeit schlimmer geworden zu sein.

Zu Beginn seiner Regierungszeit gab es die Generäle als Gegenpol. Heute sind sie gänzlich marginalisiert. 2008 setzte er sich gegen die Justiz durch, als deren – ebenfalls undemokratisches – Verbotsverfahren gegen die AKP scheiterte. Als er die Parlamentswahlen 2011 mit noch mehr Stimmen als bei den Siegen 2007 und 2002 gewann, brachen für Erdogan alle Dämme. Ich hatte mich immer gefragt, was er tun wird, wenn er sich vor niemandem mehr fürchten muss. Jetzt wissen wir es.

Vielleicht holen ihn die Proteste doch noch auf den Boden der Realität zurück.

Mir kommt er zunehmend wie ein Fallbeispiel in Psychologie vor. Erdogans Arroganz wirkt umso ausgeprägter, je mehr um ihn herum schief geht. Durch seine Unterstützung der Rebellen wird die Türkei immer mehr in den syrischen Bürgerkrieg hineingezogen. Mit seinem Drängen auf ein Eingreifen der USA blitzte er bei Barack Obama ab. Gleichzeitig verkündet er ein Megaprojekt nach dem anderen. In Istanbul will er eine dritte Bosporusbrücke sowie den grössten Flughafen der Welt bauen.

Das geplante Einkaufszentrum auf dem Grund des Geziparks ist aber kein Megaprojekt.

Das ist das Erstaunliche an dieser Geschichte. Erdogan bezahlt gerade einen sehr hohen politischen Preis im In- und Ausland. Wofür? Für ein Einkaufszentrum. Aus Tunesien deutete er an, man könne stattdessen auch etwas anderes bauen. Er hat offenbar noch immer nicht begriffen, dass nicht nur die Entscheidung an sich ein Problem ist. Sondern auch der Umstand, dass immer er die Entscheidung trifft. Wenn er so weitermacht, könnte es passieren, dass er am Ende zurücktreten muss.

Erleben wir gerade das Ende der Türkei als Musterbeispiel dafür, dass Islam und Demokratie zusammenpassen?

Die Frage war für mich nie so sehr, ob Islam und Demokratie zusammenpassen. Sondern ob Erdogan und Demokratie zusammenpassen. Ich denke, trotz all seiner Fehler hat er mit der AKP eines erreicht: Die säkulare Elite, welche das Land vor ihm regierte, akzeptiert heute gläubige Muslime als gleichwertige Bürger. Der enorme Graben, der früher zwischen diesen beiden Lagern herrschte, ist kleiner geworden. Im Moment sind zudem viele Türken im Hass Erdogans vereint. Doch wer weiss, was nach ihm kommt?

Wer könnte nach ihm kommen?

Da sehe ich momentan keine Namen, die sich aufdrängen. Abgesehen vielleicht von Staatspräsident Abdullah Gül, der versöhnlichere Töne anschlägt. In den Reihen der traditionellen Oppositionsparteien gibt es niemanden. Es könnten sich völlig neue Parteien bilden – auch im religiösen Lager. Die wären vielleicht noch konservativer als die AKP. Es ist eine Sache, Toleranz einzufordern, wenn man diskriminiert wird. Später selbst am Drücker zu sein und seinen ehemaligen Gegnern gleiche Rechte einzuräumen, eine andere.

Wie geht es in den nächsten Tagen weiter?

Es ist eine unglaublich intensive und interessante Zeit. Wir sehen all diese jungen Menschen auf der Strasse, von denen zuvor viele apolitisch waren. Wer nicht demonstriert, sitzt bis in die Morgenstunden zu Hause am Computer und liest, was in den anderen Städten des Landes passiert. Im Moment herrscht eine grossartige Stimmung. Der Skeptiker in mir glaubt, dass sie nicht von Bestand sein wird.

Erdogan trommelt seine Parteiführung zusammen

Angesichts der Massenproteste gegen seine Regierung hat der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eine Sondersitzung des Vorstands seiner konservativ-religiösen Partei AKP einberufen. Das Treffen sollte am Samstag in Istanbul stattfinden, wo immer noch Tausende Demonstranten den zentralen Taksim-Platz besetzt halten. In der Nacht zum Samstag kam es in Vororten Istanbuls erneut zu Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Polizei. Nach Augenzeugenberichten wurde mindestens ein Mensch verletzt.

Die türkische Regierung hat inzwischen zugegeben, dass Polizisten in den vergangenen Tagen teils exzessive Gewalt gegen Demonstranten angewendet haben. Erdogan betont aber zugleich, die Proteste seien «undemokratisch», da seine Regierung mit breiter Mehrheit gewählt worden sei.

Tausende auf den Strassen

In Istanbul haben am Samstag erneut tausende Menschen gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan demonstriert.

Seit dem frühen Morgen kamen viele mit Lebensmitteln und Decken zum Taksim-Platz, dem Zentrum der Proteste, wo sich seit Tagen eine Zeltstadt immer weiter vergrössert.

Die Demonstranten trotzten der Aufforderung Erdogans vom Freitag, die Proteste sofort zu beenden. Auch in der Hauptstadt Ankara waren erneut Kundgebungen geplant.

In der Nacht zum Samstag war es in der Türkei weitgehend ruhig geblieben. Tausende demonstrierten friedlich auf dem Taksim-Platz und in mehreren Städten. Lediglich in einem Vorort von Istanbul setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer gegen Demonstranten ein. Diese sollen Feuerwerkskörper und Sprengsätze auf die Sicherheitskräfte geworfen haben.

In der südlichen Provinz Adana nahm die Polizei erneut mindestens fünf Nutzer des Kurznachrichtendienstes Twitter fest, denen Verbreitung von Desinformation vorgeworfen wurde. Nach sieben weiteren Beschuldigten werde gesucht.

Die Protestwelle in der Türkei hatte am Freitag vergangener Woche nach einer gewaltsamen Polizeiaktion gegen Demonstranten begonnen, die ein Bauprojekt im Gezi-Park am Taksim-Platz verhindern wollten.

Seitdem weiteten sich die Proteste auf das ganze Land aus und wandten sich zunehmend gegen Erdogan, dem die Demonstranten einen autoritären Regierungsstil vorwerfen. Der türkischen Ärztevereinigung zufolge wurden bei den Protesten drei Menschen getötet und fast 4800 weitere verletzt.

Erdogan zeigte sich am Freitag einerseits offen für «demokratische Forderungen» der Demonstranten. Andererseits sagte er, die Proteste «grenzen an Vandalismus». Kritik europäischer Politiker wies Erdogan zurück. In jedem anderen europäischen Land würden ähnliche Proteste «eine härtere Antwort» nach sich ziehen, sagte er. (sda)

Gareth Jenkins ist britischer Staatsbürger und lebt seit 1989 in Istanbul, wo er zunächst als Korrespondent arbeitete. Heuet analysiert er als Türkei-Spezialist für das Central Asia-Caucasus Institute & Silk Road Studies Program der Johns Hopkins University in Washington die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der Region.

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