Trans Personen: «12-Jährige lassen sich nicht aus einer Laune heraus operieren»

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Geschlechtsangleichung«Es gibt keine 12-Jährigen, die sich aus einer Laune heraus operieren lassen»

David Garcia Nuñez ist Psychiater und forscht am Unispital Basel zu Geschlechtervarianz. Er kritisiert die «Zahlenspielerei» und sagt: «Brustoperationen bei Minderjährigen sind absolut seltene, aber notwendige Ausnahmen.»

Daniel Graf
von
Daniel Graf

Michelle Halbheer wurde bei Geburt das männliche Geschlecht zugeschrieben. Sie fühlte sich oftmals falsch, ohne zu wissen, wieso. Bis ihre Partnerin sie eines Tages fragte, ob sie vielleicht lieber als Frau leben möchte.

20min

Darum gehts

  • Seit etwas mehr als zehn Jahren sind operative Geschlechtsangleichungen in der Schweiz einfacher möglich. 

  • Auch Minderjährige können ihr Geschlecht operativ angleichen lassen, wenn bei ihnen eine sogenannte Genderdysphorie diagnostiziert wurde. 

  • Ein Elternverein zeigt sich besorgt über die steigenden Zahlen von Geschlechtsangleichungen von Minderjährigen. 

  • Der Psychiater David Garcia Nuñez widerspricht: «Das ist absolut richtig. Auch Minderjährige müssen Zugang zu Operationen haben, wenn ein medizinischer Zustand das erfordert.»

Zwischen 2018 und 2021 haben sich in der Schweiz zehn trans Jungen im Alter von zehn bis 14 Jahren und 58 trans Jungen im Alter von 14 bis 18 Jahren einer beidseitigen Mastektomie unterzogen, sich also die Brüste entfernen lassen.

Überraschen Sie diese Zahlen?

David Garcia Nuñez: Nein. Sie widerspiegeln die Tatsache, dass die trans Bevölkerung zunehmend sichtbarer wird und dass bis vor wenigen Jahren absolut unhaltbare Zustände in der medizinischen Versorgung und der Rechtssicherheit herrschten. Das führte dazu, dass viele trans Personen einen grossen Bogen um die Spitäler machten. Die 68 Operationen in vier Jahren bestätigten die Aussagen von Expertinnen und Experten, dass diese Operationen die absolute Ausnahme darstellen. Trotz den grenzwertigen Zahlenspielereien dieses Vereins gibt es pro Kanton und Jahr im Schnitt weniger als einen Fall.

Haben Sie selber schon minderjährige Jugendliche beraten, die sich einer solchen Operation unterziehen möchten?

Am Innovations-Focus Geschlechtervarianz am Universitätsspital Basel fokussieren wir uns auf die Behandlung von erwachsenen trans Personen. In Ausnahmefällen haben wir auch Minderjährige und ihre Familien begleitet. Allerdings sind das wie erwähnt sehr seltene Fälle, schätzungsweise unter einem Prozent. Jährlich betreuen wir an die 250 bis 300 erwachsenen trans Personen.

«Es ist nicht hinnehmbar, den Zugang zu medizinischer Versorgung für gewisse Gruppen zu unterbinden.»

David Garcia Nuñez, Facharzt Psychiatrie

Ist es richtig, dass die Schweiz solche OPs für Minderjährige nicht verbietet?

Das ist absolut richtig. Auch Minderjährige müssen Zugang zu Operationen haben, wenn ein medizinischer Zustand das erfordert. Trans Personen, die sich für eine medizinische Behandlung entscheiden, finden das weder «lustig» noch «schön». Sie sehen sich aufgrund eines medizinischen Zustands namens «Geschlechtsdysphorie» beziehungsweise «Geschlechtsinkongruenz» zu diesem Schritt gezwungen. Es gibt keine Zwölfjährigen, die sich aus einer Laune heraus operieren lassen, wie dies teils suggeriert wird. Aus medizin-ethischer Hinsicht wäre es nicht hinnehmbar, den Zugang zur medizinischen Versorgung für gewisse Gruppen zu unterbinden, im Wissen, dass sie von dieser Massnahme schnell und effektiv profitieren könnten.

Kennst du eine trans Person? 

Was sind die Voraussetzungen für eine solche Operation?

Vor jeder chirurgischen Intervention braucht es die «Geschlechtsdysphorie»-Diagnose. Zurzeit wird diese durch psychiatrische oder psychologische Fachkräften gestellt. Im Falle von Minderjährigen empfiehlt es sich immer, mit dem Familiensystem zu arbeiten. In diesem Sinne braucht es hier auch das Einverständnis der Eltern.

«Es gibt niemanden Besseres als uns selbst, um unseren eigenen Körper zu beurteilen.»

David Garcia Nuñez, Facharzt Psychiatrie 

Können Zwölfjährige diese Entscheidung schon fällen?

Die Aufrechterhaltung der körperlichen Integrität von Menschen zählt zu den Hauptzielen der Medizin. Im Wissen, dass es niemanden Besseres gibt, um unseren eigenen Körper und die eigene Geschlechtsidentität zu beurteilen, als wir selbst, bin ich der Meinung, dass alle Menschen in erster Linie selbst über diese Schritte entscheiden sollten. Der Punkt ist allerdings viel mehr, ob eine Person zum Entscheidungszeitpunkt über die genügende Urteilsfähigkeit verfügt. Diese steht immer im Fokus meiner Kolleginnen und Kollegen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und wird ständig mitbeurteilt.

Das Phänomen ist noch relativ jung. Braucht es weitere Forschung dazu?

Wir forschen zu diesem Thema und haben aber immer wieder Schwierigkeiten, an Gelder zu gelangen. Daher: Ja, es braucht viel weitere Forschung zum Thema Geschlecht und Geschlechtsdysphorie.

«Die Verpolitisierung des Lebens von trans Personen gehört zu den gefährlichsten Diskriminierungsmechanismen.»

David Garcia Nuñez, Facharzt Psychiatrie 

Ein besorgter Elternverein fordert eine politische Debatte. Braucht es die?

Nein. Diese medizinischen Interventionen sind bestens bekannt, wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich. Die «Verpolitisierung» des Lebens und der Behandlung von trans Personen gehört zu den gefährlichsten Diskriminierungsmechanismen, mit denen diese Personen täglich konfrontiert werden. Die Menschen, die uns aufsuchen, brauchen keine solchen Diskussionen und sind teilweise von einer zunehmend feindlich eingestellten Öffentlichkeit eingeschüchtert.

Was braucht es dann?

Sachlichere gesellschaftliche Debatten um unseren Umgang mit «Geschlecht» als bio-psycho-soziales Phänomen. Und eine detaillierte Auseinandersetzung, weshalb unsere Geschlechterordnung Menschen immer wieder unter einen derartigen Druck setzt, dass sie die Durchführung medizinischer Massnahmen in Betracht ziehen. Das wird allerdings mit der Publikation derart verzerrten Zahlen kaum gelingen.

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