Klima-Debatte: Fliegen Schweizer weniger, weil sie sich schämen?

Publiziert

Klima-DebatteFliegen Schweizer weniger, weil sie sich schämen?

Die Zahl der Flugpassagiere in Zürich sinkt markant, Fernreisen mit dem Zug boomen. Trägt die Klimadebatte in der Schweiz schon Früchte?

rol/mm
von
rol/mm
1 / 16
Ob in der Luft, auf der Schiene oder der Strasse: Die Klimadiskussion scheint die Schweizer im Mobilitätsverhalten zu beeinflussen.

Ob in der Luft, auf der Schiene oder der Strasse: Die Klimadiskussion scheint die Schweizer im Mobilitätsverhalten zu beeinflussen.

Keystone/Valentin Flauraud
So verliert der Flughafen Zürich plötzlich Fluggäste. Seit Jahren stieg die Zahl der Lokalpassagiere (im Vergleich zum Vorjahresmonat) stets – im Schnitt um 5 Prozent.

So verliert der Flughafen Zürich plötzlich Fluggäste. Seit Jahren stieg die Zahl der Lokalpassagiere (im Vergleich zum Vorjahresmonat) stets – im Schnitt um 5 Prozent.

Keystone/Christian Merz
Anders diesen Frühling: Im März stagnierte die Zahl, im April ging sie um 11'000, im Mai gar um 29'000 Personen zurück (-1,5 Prozent).

Anders diesen Frühling: Im März stagnierte die Zahl, im April ging sie um 11'000, im Mai gar um 29'000 Personen zurück (-1,5 Prozent).

Keystone/Alexandra wey

Dass weniger Leute ab dem Zürcher Flughafen fliegen, gab es seit Jahren nicht mehr. Nun ist die Zahl der Lokalpassagiere, also jener, die ohne vorherigen Flug ab Zürich fliegen, schon den zweiten Monat in Folge gesunken. Im Vergleich zum Vorjahresmonat zählte der Flughafen im April 11'000 Lokalpassagiere weniger, im Mai registrierte er sogar ein Minus von 29'000 Passagieren. Das entspricht einem Rückgang von 1,5 Prozent. Noch deutlicher war der Rückgang auf Flügen von und nach Europa. Der Rückgang betrug dort 2,5 Prozent.

Schlägt sich die Klimadiskussion auf das Verhalten nieder? Die Zahlen deuten darauf hin. Denn gleichzeitig boomen Reisen auf der Schiene. «Wir freuen uns, dass wir bei den internationalen Verbindungen einen positiven Trend spüren», sagt SBB-Sprecher Reto Schärli.

ÖBB bestellt neue Nachtzüge

Das stärkere Umweltbewusstsein werde sich positiv auf die Verkehrsmittelwahl und die Bahn-Nachfrage auswirken, ist Schärli überzeugt. «International Reisende, die sich heute noch für das Flugzeug entscheiden, werden künftig deutlich öfter mit dem Zug unterwegs sein.» Eine Umfrage des Verkehrsclubs der Schweiz (VCS) bestätigt das. Zwei Drittel der Befragten könnten sich demnach gut vorstellen, mit Nachtzügen in Nachbarländer zu reisen, viele wünschen sich die Nachtzüge zurück.

Heute betreiben die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) die Nachtzüge in und aus der Schweiz. «Wir erwarten deutlich mehr Reisende im Nachtzug», sagt Sprecher Bernard Rieder. Die ÖBB werde im Sommer alle vorhandenen Nachtzüge im Einsatz haben. «Bestimmte Verbindungen können ausgebucht sein», sagt er. «Wir sind überzeugt, dass die Nachfrage weiter steigt. Deshalb haben wir 13 neue Nachtzüge bestellt.»

Schweizer wählen CO2-Kompensation

Auch die SBB denkt nun über einen Wiedereinstieg ins Geschäft mit den Nachtzügen nach. Tagsüber will sie dank neuer Züge und Verbindungen ab Ende Jahr 30 Prozent mehr Sitzplätze nach Frankreich und 20 Prozent mehr nach Deutschland bieten. Dank des Ceneri-Basistunnels sind Zugreisende künftig 30 Minuten schneller in Italien und die Fahrt nach München wird eine Stunde kürzer.

Auch der Fernbus-Betreiber Flixbus spürt das Klimabewusstsein. Viele Schweizer seien vorbildlich umweltbewusst und würden ihre Fahrten CO2-kompensieren, sagt ein Sprecher. Im ersten Quartal 2019 hätten über 11 Prozent der Schweizer diesen Beitrag freiwillig geleistet. Das sei ein «hervorragender Wert».

«Klimakrise ist dramatisch»

Gerade Jüngere verzichten zudem vermehrt auf ein eigenes Auto. Das bestätigt Patrick Eigenmann, Sprecher von Mobility: «Überproportional viele junge Menschen sind in den letzten Jahren Mobility beigetreten.» Das Auto sei bei ihnen kaum mehr Statussymbol. Welche Rolle der Umweltgedanke dabei spiele, sei aber unklar. Einen Run auf Elektroautos stellt Mobility zwar nicht fest, trotzdem will das Carsharing-Unternehmen seine E-Auto-Flotte bis Ende 2020 von 77 auf rund 130 Fahrzeuge ausbauen.

Hat sich das Mobilitätsverhalten demnach schon spürbar verändert? Zumindest das Bewusstsein habe sich gewandelt, sagt VCS-Geschäftsführer Anders Gautschi: «Viele wussten vor der Debatte gar nicht, wie dramatisch die Klimakrise ist.» Immer mehr würden ihr Verhalten hinterfragen und dieses oft auch anpassen – so breite sich beispielsweise das «Phänomen Flugscham auch hier aus».

Kommt das Umdenken?

Nun seien Politik und Wirtschaft gefragt, für nachhaltige Lösungen zu sorgen. Erste positive Ansätze seien sichtbar: «Mit dem Bundesbeschluss Velo wurde die Grundlage für den Ausbau der Veloinfrastruktur gelegt und die Autohersteller investieren stark in die Elektromobilität», sagt Gautschi. Ein wichtiger nächster Schritt sei ein CO2-Gesetz.

Verkehrsexperte Thomas Sauter-Servaes ist skeptischer: «Es wäre schön, wenn endlich ein Umdenken stattfinden würde. Noch sehe ich keine Trendwende beim Mobilitätsverhalten.» Um diese einzuleiten, brauche es markante Anpassungen bei der Infrastruktur und den Preissystemen (siehe Interview).

Flughafen dementiert

Ähnlich tönt es auch beim Flughafen Zürich. Es sei zu früh, eine Aussage darüber zu wagen, ob die Rückgänge im April und Mai mit der Diskussion um die Klimaerwärmung zu tun hätten. Insgesamt, also inklusive der Transferpassagiere, seien die Passagierzahlen gestiegen.

Zudem habe der Flughafen letztes Jahr sehr hohe Wachstumsraten verzeichnet, sagt Sprecherin Sonja Zöchling. Die neuen, grösseren B777-Langstreckenflugzeuge der Swiss und die neuen C-Series-Kurzstreckenflugzeuge hätten damals ihre volle Wirkung entfaltet. Nun sehe man eine Konsolidierung.

Hinzu komme, dass die Feiertage dieses Jahr anders liegen und Pfingsten im Juni war. Zudem habe die spanische Airline Vueling ihr Angebot ab Zürich reduziert, und der Leasing-Markt für Flugzeuge sei ausgetrocknet. Ein Ende des Wachstums sieht der Flughafen nicht: «Wir gehen davon aus, dass die Passagierzahl für das ganze Jahr um 3 Prozent höher sein wird als im letzten Jahr», sagt Zöchling.

Das sagt der Verkehrs- und Mobilitätsexperte

Herr Sauter-Servaes*, im Zuge der Klimadebatte wollen viele auf Flüge und lange Autoreisen verzichten. Sind das bislang erst Lippenbekenntnisse?

Die Klimadebatte lädt zum Hinterfragen des eigenen Handelns ein, die Lippenbekenntnisse sind ein wichtiger Anfang. Damit wir unsere Mobilitätsroutinen ändern, braucht es attraktive Alternativen und reale Preise für die einzelnen Verkehrsmittel. Wer Stadtfläche verbraucht, Lärm produziert und das Klima anheizt, muss auch dafür entsprechend zahlen.

Hat die Klimadebatte noch keine spürbaren Auswirkungen auf das Verhalten?

Nein, wir kaufen weiterhin grosse und schwere Autos, um damit überwiegend innerstädtische Strecken von weniger als 5 km zu bewältigen. Die Verkehrswende ist kein Selbstläufer, sondern benötigt massive politische Interventionen.

Welche?

Für einen klimafreundlichen Verkehr müssen die Rahmenbedingungen stimmen: mehr Flächen für Fusswege, Velos und Mikromobile in der Stadt sowie leicht zugängliche Sharingangebote, die tariflich mit einem gut ausgebauten ÖV-Angebot vernetzt sind.

Sharing fristet ein Nischendasein ...

Alle sprechen davon, aber ohne einen massiven Ausbau der Infrastruktur wird es in der aktuellen Marktnische verharren. Nur wenn Sharingangebote (vom Auto bis zum Trotti gemeinsam mit dem ÖV) den privaten Personenwagen vollständig ersetzen können, haben wir die Chance auf ein zukunftsfähiges Verkehrssystem. Und es braucht verkehrsträger-

übergreifende Plattformen, die dem Kunden die gesamte Mobilität aus einer Hand zu einem Preis bieten.

Deine Meinung