BundesratswahlenFrauenbewegung stolpert über eigenen Erfolg
1993 sorgte die Nichtwahl einer SP-Frau in den Bundesrat für Proteste. Nun sieht Calmy-Rey fünf Frauen im Bundesrat als Problem. Die Genossinnen ärgerts.
- von
- Ronny Nicolussi
Mit ihrer Aussage zur Frauenquote im Bundesrat hat sich Aussenministerin Micheline Calmy-Rey in der eigenen Partei keine Freundinnen gemacht. Die ehemalige Parteipräsidentin Christiane Brunner zeigt für Calmy-Reys Aussage auf Anfrage kein Verständnis und die Zürcher SP-Nationalrätin Anita Thanei sagt zu 20 Minuten Online: «Ich habe mich wahnsinnig geärgert.» Grund für die Empörung war ein Interview der «SonntagsZeitung», in dem die Bundesrätin unter anderem sagte: «Identifikation läuft auch über das Geschlecht.» Weiter gab Calmy-Rey zu bedenken, dass sich Männer bei fünf Frauen im Bundesrat untervertreten fühlen könnten. Vor allem diese Begründung stösst Thanei sauer auf: «Es gibt in der Schweiz unzählige Gemeinde- und Regierungsräte, die in reiner Männerhand sind, ohne dass sich jemand untervertreten fühlen würden.»
In der Tat sind die Frauen prozentual in vielen Exekutiven untervertreten. Dasselbe gilt für ihre Vertretung in Parlamenten. Im Nationalrat hat der Frauenanteil bei den letzten eidgenössischen Wahlen mit 29,5 Prozent den höchsten Anteil seit der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts 1971 erreicht. Im Ständerat beträgt der Frauenanteil 21,7 Prozent. Eine überproportionale Vertretung der Frauen im Bundesrat wäre daher aussergewöhnlich. So aussergewöhnlich, dass SP-Politikerinnen Anfang der 90er Jahre nicht davon zu träumen gewagt hätten.
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte
Doch nun findet ausgerechnet eine SP-Bundesrätin fünf Frauen im Bundesrat problematisch. Damit steht sie im Widerspruch zu jahrelanger Bemühungen der eigenen Partei. Noch am 14. Juni 1991 legten rund eine halbe Million Schweizerinnen ihre Arbeit für einen Tag nieder. Mit dem «Frauenstreik» prangerten sie die zu langsame Umsetzung des Verfassungsartikels an, der gleiche Rechte für Mann und Frau versprach. Die Stimmung zum Kochen brachte schliesslich die Nichtwahl von Christiane Brunner in den Bundesrat am 3. März 1993. Die Bundesversammlung hatte an ihrer Stelle den Neuenburger Francis Matthey zum Nachfolger von Bundesrat René Felber gewählt. Für die SP war es nach der Wahl Otto Stichs anstelle Lilian Uchtenhagens im Dezember 1983 bereits das zweite Mal, dass statt der von der Partei vorgeschlagenen Frau ein Mann gewählt wurde. Matthey wurde in der Folge von der eigenen Partei unter Druck gesetzt, auf das Amt zu verzichten, was er schliesslich auch tat. Eine Woche später wurde Ruth Dreifuss in den Bundesrat gewählt.
Als Folge der Nichtwahl Brunners wurde noch am selben Tag die Quoteninitiative lanciert. Diese forderte eine gerechte Verteilung in den Bundesbehörden: Im Bundesrat sollten mindestens drei Frauen Einsitz nehmen. Sieben Jahre später, als die Initiative zur Abstimmung gelangte, schmetterte das Volk das Begehren mit 70 Prozent ab. Seit 2007 sind mit Micheline Calmy-Rey, Doris Leuthard und Eveline Widmer-Schlumpf allerdings auch ohne Initiative drei Frauen im Bundesrat. Für die SP zu wenig. Die heuer als Bundesratskandidatin gehandelte Winterthurer SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr sagte noch am Tag der verlorenen Abstimmung zur Quoteninitiative im Jahr 2000 in einem Zeitungsinterview: «Wir wollen eher vier Frauen als drei im Bundesrat.» Ihre Zürcher Kollegin Christine Goll forderte gar «zur Abwechslung sieben Frauen im Bundesrat».
«Die Gleichstellungspolitik ist nötig wie eh und je»
Sieben Bundesrätinnen wird es vorerst nicht geben, aber die Chancen stehen gut, dass am 22. September mindestens eine weitere Frau in die Regierung gewählt wird. Für eine SP-Bundesrätin müsste das ein Anlass zur Freude sein. Nicht so für Calmy-Rey. Sind für die Partei Gleichberechtigungsfragen nicht mehr aktuell, weil diese die Generation Playstation nicht mehr interessieren? Im Gegenteil. «Die Gleichstellungspolitik ist nötig wie eh und je», sagt Anita Thanei und ergänzt: «Wenn wir fähige Frauen haben, können auch sieben Frauen im Bundesrat sein.» Calmy-Reys Aussage widerspiegle keinesfalls die Meinung der Bevölkerung.
Die Journalistin und Autorin Esther Girsberger («Abgewählt – Frauen an der Macht leben gefährlich») räumt zwar ein, dass Gleichberechtigung bei der jungen Generation, die nicht dafür kämpfen musste, nicht so eine reflektierte Angelegenheit sei, wie das bei der Pioniergeneration der Fall gewesen sei. Die Hauptmotivation für Calmy-Reys Ausspruch sieht sie auf Anfrage von 20 Minuten Online indessen anderswo: «Die Bundesrätin ist bekannt dafür, dass sie gerne Aufmerksamkeit hat und befürchtet nun, diese zu verlieren.» Deshalb könne man in diesem Zusammenhang auch nicht sagen «wenn eine SP-Bundesrätin so etwas sagt», sondern «wenn Calmy-Rey so etwas sagt».
Es gibt keinen Zickenkrieg
Kritikern, die die heutige Zerstrittenheit in der Regierung auf eine stärkere Frauenvertretung zurückführen, entgegnet Publizistin Esther Girsberger: «Ich glaube, dass ist weniger eine Geschlechter- als eine Charakterfrage. Einen Zickenkrieg im Bundesrat gibt es nicht.» Gewisse Bundesräte seien heute nicht mehr bereit, die konsensorientierte Feinarbeit zu machen, wie das früher der Fall gewesen sei. Ausserdem seien heute die Themen viel stärker departementsübergreifend.
Für SP-Nationalrätin Anita Thanei sind die Probleme, mit denen sich der Bundesrat in jüngster Zeit auseinandersetzen musste, grösser geworden: «Libyen, UBS Das waren Krisen, die für die Schweiz in dieser Art neu waren.» Gerade die Frauen in der Regierung hätten sich dabei als grosse Reisserinnen erwiesen. Von einem so genannten Zickenkrieg könne daher keine Rede sein. Im Übrigen müsse mit dem Märchen aufgeräumt werden, dass der Bundesrat als reines Männergremium eine eingeschworenen Gemeinschaft gewesen sei: «Adolf Ogi und Otto Stich waren auch nicht gerade die heissesten Freunde.»