Umstrittene Forderung«Führt nur zu Konflikten» – Bürgerliche toben wegen Mehrelternschaft
Nach «Ehe für alle» will die LGBTQ-Community die Mehrelternschaft. Nicht alle haben dafür Verständnis.
- von
- Chantal Gisler
Darum gehts
Kinder sollen mehr als zwei Elternteile haben können: Dies fordert der Verband Pink Cross wenige Tage nach dem Inkrafttreten der Ehe für alle.
Dagegen laufen Rechtsbürgerliche Sturm. Sie befürchten, dass das Elternsein zur reinen Lifestyle-Entscheidung verkommt.
Seit dem 1. Juli dürfen in der Schweiz gleichgeschlechtliche Paare offiziell den Bund der Ehe eingehen. Nun fordert die LGBTQ-Bewegung die nächsten rechtlichen Anpassungen, um «einen echten familienpolitischen Fortschritt» zu erreichen. Darunter auch die Möglichkeit, mehr als zwei Elternteile als rechtliche Eltern anzuerkennen. Somit könnten beispielsweise ein lesbisches und ein schwules Paar Eltern eines Kindes werden (siehe Box). Laut Jan Müller von Pink Cross geht es nicht darum, dass ein Kind zehn Eltern hat. «Dass es aber nicht nur die biologischen Eltern gibt, ist eine Tatsache. Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, das Gesetz sollte dem Rechnung tragen», so Müller gegenüber der «SonntagsZeitung».
«Wir haben davor gewarnt, dass die LGBTQ-Community mit solchen und weiteren weitreichenden Forderungen kommt, wenn die Ehe für alle angenommen wird», sagt SVP-Nationalrat Mauro Tuena. Er lehnt die Mehrelternschaft klar ab: «Es gibt keinen Grund, wieso ein Kind vier oder fünf Elternteile haben sollte. Die Natur sieht das nicht vor. Zudem stellt sich die Frage, wen man anrufen soll, wenn das Kind beispielsweise Probleme in der Schule hat? Zuerst Papi eins, dann Papi zwei und zum Schluss Mami drei? Das führt doch nur zu Konflikten und einem Chaos.»
«Ich stehe für die Zweielternschaft»
Ähnlich sieht es Mitte-Nationalrätin Marianne Binder-Keller. «Ich stehe für die Zweielternschaft.» Das Kindeswohl stehe dabei für sie im Zentrum: «Wenn jegliche Entscheidung über das Schicksal eines Kindes von mehreren Parteien wie in einer familiären Kleindemokratie abgesegnet werden muss, führt die Mehrelternschaft zu weniger Stabilität, Sicherheit und Geborgenheit.» FDP-Ständerat Andrea Caroni, der die Motion über die Revision des Abstammungsrechts eingereicht hat, spricht sich grundsätzlich nicht gegen die Mehrelternschaft aus: «Es ist ein interessantes Konzept. Es ist aber noch Zukunftsmusik und ein grosser Schritt für unsere Gesellschaft.»
Laut Rechtsanwalt Richard Chlup, der sich mit dem Familienrecht befasst, gibt es derzeit keine Möglichkeit, mehr als zwei rechtliche Elternteile anzuerkennen. Mit der bevorstehenden Revision des Abstammungsrechts könnte die Frage der Mehrelternschaft aber festgehalten werden. «Wenn das angenommen wird, müssen die Gerichte dann die noch offenen Fragen klären. Es gibt viele mögliche Konstellationen, die man im Gesetz vorsehen kann, von der Frage, wie viele Eltern ein Kind haben kann, bis zur Klage auf Anerkennung als Elternteil.»
Mögliche Konstellationen
Lesbisches Paar und Samenspender
Als mögliche Konstellation sieht Jan Müller von Pink Cross ein lesbisches Paar, welches den biologischen Vater als dritten Elternteil rechtlich anerkennen möchte. Laut Psychologe Allan Guggenbühl ist es grundsätzlich möglich, eine dritte Person in die Erziehung miteinzubeziehen. Das Problem dabei: «Ein Kind merkt schnell, wer das Paar ist und wer ‹nur› eine weitere Bezugsperson ist. Ein Kind kann maximal zu zwei Personen eine elterliche Beziehung aufbauen.» Psychologisch gesehen gebe es somit keine Mehrelternschaft. «Es ist eine Überheblichkeit der erwachsenen Personen, dies so definieren zu wollen.»
Zwei homosexuelle Paare
Eine weitere Konstellation: ein schwules und ein lesbisches Paar, die ein Kind gemeinsam grossziehen. «Es geht nicht darum, neue Familienformen zu propagieren, sondern bestehende rechtlich abzusichern und den gesellschaftlichen Realitäten gerecht zu werden», sagt Jan Müller. Laut Allan Guggenbühl können auch hier andere Menschen zwar Bezugspersonen sein, aber nicht auf elterlicher Basis. «Der Grossteil der Kinder wird auch bei dieser Konstellation zwei Elternteile, eine Mutter und einen Vater oder Personen, mit ebendiesen Attributen, suchen, zu denen es eine starke, elterliche Bindung aufbauen kann.»
Patchworkfamilie
Auch Patchworkfamilien hält Jan Müller für eine mögliche Konstellation. «Das Problem dabei ist, dass der neue Partner oder die neue Partnerin oft nicht von den Kindern angenommen wird oder es lange dauert, bis das Kind sich auf diese Beziehung einlassen kann», sagt Allan Guggenbühl. Laut Rechtsanwalt Richard Chlup stehen Patchworkfamilien zudem vor finanziellen Herausforderungen. «Wenn mehr Kinder hinzukommen, gilt es, den Alimentenbetrag neu zu berechnen und anzupassen. Auch die Erbschaftsfrage muss geklärt werden. Solche neu geschaffenen Hindernisse machen eine Patchworkfamilie weniger stabil als eine normal getrennte Familie.»
LGBTIQ: Hast du Fragen oder Probleme?
Hier findest du Hilfe:
LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133
Du-bist-du.ch, Beratung und Information
InterAction, Beratung und Information für intergeschlechtliche Menschen, Tel. 079 104 81 69
Lilli.ch, Information und Verzeichnis von Beratungsstellen
Milchjugend, Übersicht von Jugendgruppen
Elternberatung, Tel. 058 261 61 61
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147