Funkstille mit Familie: «18 Jahre auf ein ‹hab dich lieb› warten zu müssen, ist zu lang»

Publiziert

Funkstille mit Familie«18 Jahre auf ein ‹hab dich lieb› warten zu müssen, ist zu lang»

Zwei Personen aus der Community erzählen, wieso sie keinen Kontakt mehr zur Familie haben. Damit seien sie nicht allein, denn Gen Z breche eher mit einer «toxischen Familie» als andere Generationen, bestätigt eine Expertin.

1 / 3
Die 22-jährige Mona hat keinen Kontakt mehr zu ihrem Erzeuger: «Wir reden von Kindsvernachlässigung, mentaler Gewalt, Mobbing.»

Die 22-jährige Mona hat keinen Kontakt mehr zu ihrem Erzeuger: «Wir reden von Kindsvernachlässigung, mentaler Gewalt, Mobbing.»

Privat
Auch Timo (22) hat den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Er findet: «Sie war nie eine gute Mutter, deshalb ist es kein Verlust.»

Auch Timo (22) hat den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Er findet: «Sie war nie eine gute Mutter, deshalb ist es kein Verlust.»

Privat
Ramona Zenger, Psychotherapeutin im Institut ISPP, bestätigt, dass der Fokus der Gen Z, im Gegensatz zu anderen Generationen, mehr auf mental health liegt.

Ramona Zenger, Psychotherapeutin im Institut ISPP, bestätigt, dass der Fokus der Gen Z, im Gegensatz zu anderen Generationen, mehr auf mental health liegt.

Privat

Darum gehts

  • Tiktok zeigt: Gen Z hat weniger Probleme damit, ihre eigene mentale Gesundheit vor alles andere zu stellen als andere Generationen. Auf Social Media wird das Thema unter «toxicfamily» rege diskutiert.

  • Auch in der 20-Minuten-Community gibt es Leute, die den Kontakt zur Familie abgebrochen haben.

  • Timo* (22) und Mona* (22) erzählen ihre Geschichten.

  • Wir haben bei Psychotherapeutin Ramona Zenger nachgefragt, ob die junge Generation wirklich schneller abschliesst als andere.

«Aber es ist doch deine Familie …» – dieses Argument gilt nicht, zumindest wenn man die Generation Z fragt. Auf Tiktok finden sich unter dem Hashtag «toxicfamily» über zwei Milliarden Aufrufe. Die meisten Videos zeigen junge Leute, die ihre familiäre Situation beschreiben und erzählen, wieso es in ihrem Fall besser ist, keinen Kontakt zur Familie zu pflegen. 

Selten ist der Kontaktabbruch nicht, denn wie eine Studie von Karl Pillemer, Professor an der Cornell University, zeigt, haben 27 Prozent der 1300 Befragten angegeben, keinen Kontakt mehr zur Familie zu haben, um sich zu schützen. Auch unter der 20-Minuten-Community gibt es Leserinnen und Leser, die mit ihrer Familie gebrochen haben. Die beiden 22-jährigen Timo* und Mona* gehören zur Gen Z. Beide meiden ihre Familien, damit sie «heilen» können, wie sie sagen. 

«Mein Erzeuger hat den Namen ‹Vater› nicht verdient»

Die 22-jährige Mona* hat seit vier Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Erzeuger, wie sie ihn nennt. Mit ihrer Mutter hatte sie auch jahrelang gebrochen, nun gibt es sporadischen Kontakt. Wie Familie fühle es sich aber nicht an, wie die Zürcherin erzählt: «In meinen Augen habe ich keine Eltern. Es hat schon früh angefangen, doch gesehen habe ich es erst sehr spät. Wir reden von Kindsvernachlässigung, mentaler Gewalt, Mobbing. Grösstenteils vonseiten meines Erzeugers, den Namen ‹Vater› hat er nicht verdient. Damals wollte ich es nicht wahrhaben, weil ich dachte, dass ein Kind zur Familie gehört. Mit 17 wurde mir dann klar, dass ich nicht weiter an den Menschen festhalten kann, die für mein Leid zuständig waren. Es war eine Entscheidung, die plötzlich fiel. Ich musste den Ballast loswerden und heilen. Und das ging nicht, wenn mein Erzeuger und meine Mutter weiter Teil meines Lebens waren. Also habe ich meine Nummer gewechselt und bin weit weggezogen. Zum ersten Mal habe ich mich frei gefühlt. Es ist die beste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe. Mit meiner Mutter habe ich wieder sporadischen Kontakt, denn ich habe gemerkt, dass sie sich verändert hat. Aber sie ist für mich dennoch keine Mutter und das wird sie auch nie sein. Ich musste 18 Jahre lang auf ein ‹ich hab dich lieb› und auf ein ‹ich bin stolz auf dich› warten – das ist einfach zu spät.»

Mona kenne viele in ihrem Umfeld, die auch wegen ihrer mentalen Gesundheit mit der Familie gebrochen hätten. 

Hast du selbst oder kennst du jemanden, der keinen Kontakt zur Familie hat?

«Sie war nie eine gute Mutter, deshalb ist es kein Verlust»

Auch der 22-jährige Timo* hat mit seiner Familie gebrochen. Seine Mutter hat er komplett aus seinem Leben gestrichen: «Das Verhältnis zu meiner Familie war schon immer kompliziert. Für mich war früh klar, dass ich einfach nur weg will. Meine Mutter kam nie mit der Verantwortung klar, eine Mutter zu sein. Mit meiner Familie zu brechen, war ein unterbewusster Entscheid, es passierte nicht aktiv. Zunächst ging es mir nicht gut, die Einsamkeit traf mich hart, die Stille war bedrückend. Aber ich wusste, dass es der richtige Weg war. Mit der Zeit konnte ich heilen und wollte wieder langsam Kontakt aufbauen. Mit meinem Vater funktionierte es, er gab mir ein Stück Familie zurück. Nicht so bei meiner Mutter. Sie meldete sich nur, wenn sie etwas brauchte. Da war für mich klar, dass ich einen kompletten Schnitt brauche. Da sie nie eine gute Mutter war, ist es für mich kein Verlust. Ich bin zufrieden darüber, dass ich mit ihr abgeschlossen habe.»

Leicht sei es dem Basler nicht gefallen, doch er habe gewusst, dass dieser Entscheid der einzig richtige für seine mentale Gesundheit sei. Sein Umfeld reagiere sehr verständnisvoll auf seine Situation, wie er erzählt: «Ich habe das Gefühl, dass Leute in meinem Alter verstanden haben, dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als das angeblich stärkste Band Familie.»

*Name ist der Redaktion bekannt.

«Gen Z kümmert sich mehr um ihre Bedürfnisse»

Ramona Zenger ist Psychotherapeutin im Institut ISPP.

Ramona Zenger ist Psychotherapeutin im Institut ISPP.

Privat

Frau Zenger, fällt es der Gen Z leichter, den Kontakt zur Familie abzubrechen, falls dies nötig ist?

Der Wunsch nach Entwicklungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten ist bei der Gen Z sicherlich stärker geworden als in früheren Generationen. Junge Leute kümmern sich mehr um ihre Bedürfnisse und setzen diese auch mehr um. Dies möglicherweise auch dann, wenn der Kontakt zur Familie sich schwierig oder konfliktreich gestaltet.

Was können Gründe sein, weshalb es anderen Generationen schwerer fiel, sich von der Familie zu distanzieren?

Frühere Generationen, in der Abhängigkeit vom zeitlichen und gesellschaftlichen Rahmen, hatten «existenzielle Probleme» wie grosse wirtschaftliche Krisen, Krankheiten, Kriege und Konflikte und deshalb möglicherweise weniger Kapazitäten, um sich um die eigene mental health zu kümmern. Ausserdem hatten früher traditionelle Familienstrukturen eine grössere Bedeutung und auch Wichtigkeit. Die Familie «musste» aufgrund von unterschiedlichen Herausforderungen zusammenhalten und auch das Bild einer intakten Familie gegen aussen wahren.

Hat Social Media einen Einfluss?

Natürlich. Heutzutage ist der Zugang zu Wissen viel einfacher. Über das Internet oder auch Social Media wurde das Thema «mental health» populärer. Im Zuge von Social Media hat teilweise auch die Stigmatisierung psychischer Probleme abgenommen und die Sensibilisierung für psychische Themen zugenommen.

Darf man mit der Familie brechen?

Es gibt bestimmt Situationen, in welchen es für die psychische Gesundheit empfehlenswert ist, den Kontakt zur Familie abzubrechen. Jedoch darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass der Kontaktabbruch zur Familie eine schwerwiegende Entscheidung ist, welche zumeist mit emotionalen Herausforderungen verbunden ist. Dabei spielen gesellschaftliche Erwartungen und Werte eine grosse Rolle, dass es uns schwerfällt, den Kontakt mit der Familie abzubrechen. Ausserdem steht die Familie auch für Sicherheit und Stabilität.

Ab welchem Moment sollte man den Kontakt abbrechen?

Wenn familiäre Beziehungen zur Instabilität der psychischen Gesundheit führen und zu erheblichem Stress oder sogar zu Angstzuständen, Depressionen oder Panikattacken führen, sollte darüber nachgedacht werden, ob der Kontakt sinnvoll ist.

Sollte man den Kontakt irgendwann wieder suchen?

Schwierige Umstände sowie auch Situationen können sich immer wieder verändern. Ein Kontaktabbruch muss keineswegs dauerhaft sein, sondern kann auch eine wertvolle «Kontaktpause» sein. Ich denke, vor einer erneuten Kontaktaufnahme sollte man für sich reflektieren, welche Umstände zum Kontaktabbruch geführt haben und ob sich diese geändert haben. Ausserdem ist es empfehlenswert, sich zu überlegen, wie man den Kontakt zur Familie in der Zukunft gestalten möchte, sodass die psychische Gesundheit nicht negativ beeinflusst wird.

Hast du Probleme mit deinen Eltern oder Kindern?

Hier findest du Hilfe:

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Elternberatung, Tel. 058 261 61 61

Keine News mehr verpassen

Mit dem täglichen Update bleibst du über deine Lieblingsthemen informiert und verpasst keine News über das aktuelle Weltgeschehen mehr.
Erhalte das Wichtigste kurz und knapp täglich direkt in dein Postfach.

Deine Meinung