Ernährungsberaterin klärt auf«Glutenfreie Diät kann zu Mangelernährung führen»
Jeder kennt jemanden, der ein bestimmtes Lebensmittel nicht essen kann – oder dies zumindest meint. Eine Ernährungsberaterin räumt mit Unverträglichkeiten auf.
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Frau Stalder, wie viele Menschen in der Schweiz leiden an einer Glutenunverträglichkeit?
Karin Stalder: Von einer echten Zöliakie ist rund 1 Prozent betroffen. Bei diesen Menschen kommt es zu einer chronischen Entzündung der Schleimhaut des Dünndarms, weil ihr Körper überempfindlich auf Gluten reagiert. Sie sind daher ihr Leben lang gezwungen, sich glutenfrei zu ernähren. Daneben gibt es die Glutensensitivität – hier führt das Klebereiweiss bei den betroffenen Personen zu Verdauungsbeschwerden.
Die Regale der grossen Detailhändler sind voll mit glutenfreiem Essen. Ist das gerechtfertigt, wenn man bedenkt, dass nur 1 Prozent wirklich auf glutenfreie Nahrung angewiesen ist?
Es ist toll, dass Betroffene von Zöliakie aus einem vielfältigen Sortiment wählen können. Für alle anderen gilt: Die Nachfrage macht den Markt. Menschen mit Verdauungsbeschwerden suchen die Ursache meist bei der Ernährung und wünschen deshalb Spezialprodukte. Diese können wirklich helfen, aber auch der Lebensstil hat einen grossen Einfluss.
Inwiefern?
Viele Menschen essen hastig, vor dem Computer, ohne sich die Zeit zu nehmen, die der Körper für die Verdauung braucht. Dazu kommt vielleicht eine unausgewogene Ernährung, zu viele Genussmittel, Stress und wenig Schlaf. All dies wirkt sich auf den Stoffwechsel aus.
Ist die Glutenunverträglichkeit nicht auch ein bisschen zu einer Trendkrankheit geworden ?
Ja, manche Menschen verzichten tatsächlich freiwillig – also ohne medizinischen Grund – auf Gluten. Sie folgen einem Trend. Es wird zudem behauptet, eine glutenfreie Ernährung sei gesund, man verliere sogar Gewicht oder bekomme eine schönere Haut. Dazu ist die Datenlage aber unklar.
Was passiert, wenn ich mich als gesunde Person glutenfrei ernähre?
Ist der Speisezettel trotzdem ausgewogen, passiert nicht viel. Unbedacht kann es schlimmstenfalls zu einer Mangelernährung mit gesundheitlichen Folgen kommen.
Demnach haben Lebensmittelallergien und Intoleranzen in der Schweiz gar nicht zugenommen?
Doch, wir beobachten effektiv eine Zunahme. Rund 20 Prozent der Schweizer leiden beispielsweise an einer Laktoseintoleranz, bis zu vier Prozent sind von einer Lebensmittelallergie betroffen. Auch der Anteil an Zöliakie-Patienten ist gestiegen.
Wie erklären Sie sich das?
Die Gründe sind unklar, man geht von verschiedenen Faktoren aus: Wir essen heute anders als noch unsere Grosseltern, tendenziell mehr Fertigprodukte und neue Lebensmittel, auf die man reagieren kann. Gleichzeitig gibt es heute bessere Möglichkeiten, Allergien und Intoleranzen zu diagnostizieren.
In Deutschland boomen Schnelltests: Der Zuwachs liegt 2015 bei 31 Prozent. Die Deutsche Zöliakie-Gesellschaft warnt aber, diese lieferten keine zuverlässigen Ergebnisse. Nur eine Magenspiegelung mit Dünndarmbiopsie bringe Sicherheit. Ist dies auch in der Schweiz ein Problem?
Schnelltests gibt es auch hierzulande. Wir raten aus den genannten Gründen ebenfalls davon ab. Eine medizinische Abklärung und eine Ernährungsberatung sind bei einer Zöliakie unerlässlich, damit die betroffene Person ihre Ernährung richtig umstellen kann. Strikt glutenfrei zu essen ist ein grosser Einschnitt in die Essgewohnheiten und zu Beginn eine echte Herausforderung.

Karin Stalder ist Ernährungsberaterin bei aha! Allergiezentrum Schweiz. Bild: Remo Eisner