Verletzter am BahnhofHaben wir verlernt, anderen zu helfen?
Die Fälle häufen sich, in denen Personen in einer Notlage von Mitmenschen keine Hilfe bekommen. Unsere Gesellschaft trage eine Mitschuld daran, so ein Experte.
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- jk/dk/daw
Ein verletzter Mann liegt blutüberströmt am Boden. Passanten machen ein Foto und gehen anschliessend weiter – statt ihm zu helfen. Offenbar ein verbreitetes Problem: Derzeit laufen mehrjährige Präventionskampagnen, mit denen die Polizei dazu aufruft, nicht wegzuschauen, sondern zu helfen. Amnesty Schweiz bietet Zivilcourage-Workshops an und auch die Kriminalprävention Schweiz wird Anfang 2019 eine neue Kampagne lancieren.
Der Mann in Dietikon, der ein Foto gemacht hatte und weitergegangen war, statt zu helfen, begründete sein Verhalten auch damit, dass er nichts mit der Polizei zu tun haben wolle. Dafür gebe es keine Entschuldigung, sagt Andres Büchi, Chefredaktor des «Beobachters», der alljährlich den Prix Courage für Heldentaten verleiht. Das Verhalten des Zeugen in Dietikon sei exemplarisch schlecht.
«Das Wir-Gefühl geht verloren»
Leider sei das kein Einzelfall: «Man starrt aufs Handy, hat Kopfhörer in den Ohren und kümmert sich nicht um die Umgebung. Ich stelle fest, dass das Wir-Gefühl, auch für andere Verantwortung zu übernehmen, zunehmend verloren geht.» Die Gesellschaft richte sich im Zuge der Individualisierung stärker an Ego-Zielen aus. Umgekehrt gebe es aber immer noch Leute, die ohne zu zögern zivilcouragiert eingreifen würden – wie die Kandidaten des Prix Courage. «Es kommt stark darauf an, welche Werte man zu Hause mitbekommt», so Büchi.
Dirk Baier, Leiter Kriminalprävention an der ZHAW, sagt, ein kurzer Anruf mit dem Mobiltelefon koste nichts und sei das Minimum, was es in so einer Situation zu tun gelte. Der Griff zum Mobiltelefon sei heute bei vielen ja geradezu reflexartig. Aber: «Wir leben in einem von Bildern dominierten Zeitalter und sehen jeden Tag im Internet und Fernsehen Fotos von Verletzten oder Gefahrensituationen. Oftmals handelt es sich dabei auch um gestellte Bilder. Das kann dazu führen, dass wir Mühe bei der Interpretation einer entsprechenden Situation haben .»
«Je mehr Leute es hat, desto weniger wird eingeschritten»
Von einem generellen Trend hin zur Feigheit zu sprechen, sei aber falsch, so Baier. Gerate man in eine entsprechende Situation, gelte es, durchdacht zu handeln. «Je mehr Leute in der Nähe sind und je uneindeutiger die Situation, desto kleiner ist die Chance, dass jemand einschreitet.» Sei man unsicher, empfehle es sich, bei umstehenden Leuten nachzufragen, ob bereits jemand geholfen habe oder nicht. «Es geht höchst selten darum, den Helden zu spielen. Man darf aber unter keinen Umständen nicht einfach denken, die anderen würden schon eingreifen», sagt Baier.
Von dieser fehlenden Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, spricht auch Michelle Meier von der Menschenrechtsorganisation Amnesty Schweiz. Es gebe mehrere Punkte, die herumstehende Personen vom Einschreiten abhalten würden. «Erstens nehmen wir in unserem hektischen Alltag die Notlagen häufig gar nicht bewusst wahr und übersehen sie. Zweitens neigen wir dazu, eine Situation, die wir beobachten eher zu verharmlosen. Schliesslich haben wir auch zu wenig Kenntnisse von möglichen Strategien, die ein korrektes Einschreiten ermöglichen, das schnell hilft oder einen selbst nicht gefährdet», erklärt Meier.
Nothilfe statt Zivilcourage
Dieses fehlende Wissen sei eher der Grund für ein Nicht-Einschreiten als Angst. Amnesty Schweiz biete darum Zivilcourage-Kurse an, die Nachfrage sei steigend», so Meier.
Doch im Beispiel von Dietikon sei weniger Zivilcourage gefragt als vielmehr Nothilfe, sagt Marc Besson, Mediensprecher der Kantonspolizei Zürich. «In unserem Alltag sind denn meist auch nicht Heldentaten gefragt, sondern eher beherztes Eintreten für mehr Gerechtigkeit.» Es sei sei das Mindeste, dass man als Beobachter die Polizei oder die Sanität anrufe, hält Besson fest. Wer es unterlässt, Nothilfe zu leisten, kann Ärger mit dem Richter bekommen. Auf das Offizialdelikt stehen bis zu drei Jahre Haft oder eine Geldstrafe, wie Besson ausführt.
Marc Besson von der Kapo Zürich erklärt:
Wie läuft das ab, wenn ich per Telefon Hilfe rufe?
Wenn jemand die 117 oder 144 anruft, sind die Rettungskräfte innert weniger Minuten vor Ort. Die Person, die angerufen hat, wird zunächst von den Polizisten befragt und gibt Personalien an, die Rettungssanitäter kümmern sich in dieser Zeit um die verletzte Person. Danach erfolgt die Spurensicherung und allfällige Befragung weiterer Zeugen vor Ort.
Kann ich als Anrufer in Schwierigkeiten mit der Polizei geraten?
Sollte sich ein begründeter Verdacht im Zusammenhang mit der verletzten Person ergeben, kann eine schriftliche Befragung durchgeführt werden. Hat die Person nichts gesehen, kann sie ihren Weg bald fortsetzen. Es handelt sich also um wenige Minuten.
Wie viel kostet mich ein Notruf?
Von Gerüchten – etwa dass ein Anruf 600 Franken koste – hat die Kantonspolizei Zürich Kenntnis. Diese sind jedoch falsch. Wenn man von solchen Falschmeldungen hört, kann man im Zweifelsfall einen Polizisten vor Ort zu fragen.
Muss ich mit einer Strafe rechnen, wenn ich nicht einschreite und in einer Notlage nicht weiterhelfe?
In einem Fall wie jenem aus Dietikon müssten die Untersuchungsrichter prüfen, ob Person wegen Unterlassung der Nothilfe belangt werden kann. Es ist ein Offizialdelikt, das eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren oder eine Geldstrafe nach sich zieht.
Falls es zu einem Verfahren kommt, muss ich dann als Zeuge aussagen, wenn ich als erster eingeschritten bin und geholfen habe?
Dies hängt von den allenfalls tatrelevanten Aussagen oder Angaben ab. Wenn jemand also zum Tathergang oder zur Täterschaft wichtige Angaben machen kann, kann eine Untersuchungsbehörde eine Befragung anordnen.