ZürichDas Sächsilüüte mit Böögg war eine Demo gegen die Wohnungsnot
Weil das Armenquartier abgerissen werden sollte, verbrannten Bewohner einen «Böögg» – die Verkörperung eines «bürgerlichen Zürchers von der rechten Limmatseite».
Darum gehts
Das Sechseläuten hat seinen Ursprung in einem abgerissenen Quartier in Zürich, dem «Kratz».
Für die Bewohnerinnen und Bewohner war das Sechseläuten 1892 eine letzte Demo.
Verbrannt wurde erstmals nicht ein Hund oder Löwe aus Stroh, sondern ein «Böögg».
Dass dieser «eine gewisse Ähnlichkeit mit einem gesetzten Bürger von der rechten Limmatseite» aufwies, war kein Zufall.
Das Sechseläuten als elitärer, patriarchalischer Anlass für das wohlhabende Bürgertum Zürichs, während die Habenichtse aussen vor bleiben: Das zumindest denken auch heute noch viele Zürcherinnen und Zürcher über den jährlich stattfindenden Traditionsanlass. Dabei hat das Sechseläuten nicht bei den Zünftern oder beim «Sechseläuten-Central-Comité» seinen Ursprung, sondern bei den Bewohnerinnen und Bewohnern des Zürcher Kratzquartiers, einem mittelalterlichen Armenquartier, das 1892 abgerissen wurde.
Bis 1892 waren die Zürcher gewohnt, Strohpuppen in der Form von Hunden oder Löwen zu verbrennen. Dass aber dann ein Böögg, der «eine gewisse Ähnlichkeit mit einem gesetzten Bürger von der rechten Limmatseite» aufwies, verbrannt wurde, war kein Versehen.
Die Ursprünge
Wo heute die Bahnhofstrasse, der Paradeplatz, die Nationalbank oder das neue Stadthaus stehen, wohnten vor 150 Jahren noch Menschen: Die «Chrätzlerinnen und Chrätzler», wie die Bewohner des Quartiers genannt wurden, feierten seit der Zeit der Reformation zur Tagundnachtgleiche ein «ausgelassenes Quartierfest». Die Kinder im Quartier waren gewohnt, als kleinen Nebenerwerb Brennholz für die Erwachsenen zu sammeln. Wie die Historikerin Camille Schneiter in einem Beitrag des Historischen Seminars der Universität Zürich ausführt, würdigten die Eltern diese Arbeit der Kinder durch das gemeinsame Aufbauen eines Scheiterhaufens.
Ein Vorbote des modernen Kinderumzugs am Vortag des Festes: Alle im Kratzquartier «zeigten ihren Eifer, zum Gelingen des Festes beizutragen und zeigten dabei hohen patriotischen Geist, d. h. Ehrgeiz, für die engere Heimat, den Kratz», schreibt Julias Stadler (1828-1904), der im Kratzquartier aufwuchs. Das Zentrum des Quartiers, der Kratzplatz, war Standort des Scheiterhaufens und somit auch Zentrum des Sächsilüüte – zumindest bis 1892.
Die Hintergründe
Der Kratzquartier fiel der städtischen Aufwertung des 19. Jahrhunderts zum Opfer. Das Armenquartier hatte einen schlechten Ruf: «Man hatte noch weniger Interesse für das, was dahinten im Kratz vorging, als für das, was hinten in der Türkei geschah», meinte Julius Stadler. Im Mittelalter war das Quartier für seine Freudenhäuser, seine schlechten hygienischen Verhältnisse und Ausdünstungen berüchtigt. Auch der Scharfrichter, der Henker, arbeitete und wohnte gleich neben dem «Kratzturm» im Quartier. Die sozialen Unterschiede zum Rest der Stadt waren gross: Im Kratz wurde sogar eine eigene Sprache, die «Gaunersprache» Rotwelsch gesprochen.
Zweckloser Widerstand
Die Stadt wollte in einer sogenannten «Grossen Bauperiode» ab 1860 zur europäischen Weltstadt werden. Zürich wollte etwa den neuen Hauptbahnhof zunächst in die Altstadt verlegen. Die Bewohner der bessergestellten «mehreren Stadt» rechts der Limmat wehrten sich allerdings erfolgreich gegen das Vorhaben. Im Gegensatz dazu war der randständige Chratz machtlos gegen die Pläne der Stadtherren. Dies, obwohl sich die Anwohnenden 1866 als «Nachbarngesellschaft im Kratz» zusammenschlossen und sich aktiv gegen den Abriss eingesetzt hatten. Die Nachbarngesellschaft organisierte seit 1868 auch das Sächsilüüte.
Die Stadt hatte aber bereits 1827 damit begonnen, Liegenschaften im Kratzquartier aufzukaufen. Als 1885 ein Grossteil des Armenquartiers bereits abgerissen wurde, griff die Stadt Zürich auch zu Zwangsenteignungen, um die letzten Kratz-Häuser an der Fraumünsterstrasse zu bodigen.
Das Ende des Kratzquartiers
Das Sechseläuten 1892 war also eine Demo gegen den Abriss des Kratzquartiers: Die Verbrennung des «Bööggs» als Verkörperung eines bürgerlichen Zürchers war ein Akt des letzten Aufbäumens. Jedoch war der Kampf der Quartierbewohnenden vergebens: 1891 war das gesamte Kratzquartier verschwunden. Nach der Demo von 1892 verteilten sich die Chrätzlerinnen und Chrätzler verteilten sich in andere Quartiere oder zogen aus der Stadt fort.
Wie Markus Brühlmann und Beat Frei in ihrem Buch «Das Zürcher Zunftswesen» schreiben, kaufte das Sechseläuten-Central-Comité den Brauch der Böögg-Verbrennung im Anschluss der Nachbargesellschaft für 240 Franken ab. «Der Brauch, der nichts mit den Zünften zu tun hatte, wurde von ihnen angeeignet und in den Umzug integriert.»
Die restlichen Zürcherinnen und Zürcher weinten dem Quartier keine Tränen nach. So schrieb die «Zürcher Adressbuch-Zeitung» 1899: «Dass dieser hässliche Name [Kratz] verschwunden ist, ist ebenso wenig zu bedauern, als dass die dortigen alten Häuser schönen Gassen, dem Stadthaus, dem Geschäftshaus des Metropols und dem neuen Postgebäude Platz gemacht haben, auf welches Mutter Helvetia uns so lange und so sehnlich hat warten lassen.»
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