Verfassungsreform«Historischer Tag für Ägypten»
Ägypten hat einen ersten Demokratie-Test hinter sich: Die Bevölkerung konnte sich zu Verfassungsänderungen äussern - und tat dies zahlreich.

Die ägyptische Bevölkerung konnte sich zu Verfassungsänderungen äussern.
Grosser Andrang an den Wahllokalen: Gut einen Monat nach dem Sturz des langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak sind in Ägypten am Samstag etwa 45 Millionen Menschen zu einem Volksentscheid über Verfassungsänderungen aufgerufen gewesen.
«Das ist ein historischer Tag für Ägypten», erklärte der stellvertretende Ministerpräsident Jahja al-Gamal, nachdem er in einem Kairoer Wahllokal seine Stimme abgegeben hatte. «Ich habe in Ägypten noch nie eine so grosse Zahl von Wählern gesehen. Nun haben die Ägypter verstanden, dass ihre Stimme zählt.»
Die Abstimmung am Samstag wurde von einem Angriff auf den Oppositionspolitiker Mohammed El Baradei überschattet. Eine aufgebrachte Menge bewarf den Friedensnobelpreisträger und dessen Begleiter vor einem Wahllokal im Kairoer Bezirk Mokkattam mit Steinen. El Baradei blieb unverletzt, musste aber in einem Geländewagen fliehen, ohne seine Stimme abgegeben zu haben.
El Baradei und andere Kritiker hatten sich gegen voreilige Verfassungsänderungen ausgesprochen.
Demokratie-Test
Das Referendum über insgesamt neun Verfassungsänderungen gilt als erster Test für den vom Volk erzwungenen Übergang zur Demokratie. Eine Zustimmung der Mehrheit würde den Weg zu Parlaments- und Präsidentenwahlen in diesem Jahr ebnen.
Ein Nein würde die von den Streitkräften gesetzte Frist für die Übergabe der Macht an eine gewählte zivile Regierung um ein halbes Jahr verlängern. Sie können das Änderungspaket nur als Ganzes ablehnen oder annehmen.
Die Verfassungsänderungen sind von einem vom Militär eingesetzten Komitee Ende Februar vorgeschlagen worden. Es geht um Regelungen, die dem am 11. Februar gestürzten Mubarak seine jahrzehntelange autoritäre Herrschaft ermöglichten.
Unter anderem sieht das Änderungspaket eine weitgehende Abschaffung der Zulassungsvoraussetzungen für Präsidentschaftskandidaten vor sowie eine Limitierung der Amtszeit des Präsidenten auf zwei je vierjährige Amtsperioden. Geplant ist ausserdem, alle Abstimmungen von der Justiz überwachen zu lassen und sie somit dem Einflussbereich des Polizeiministeriums zu entziehen.
Hoffnung auf Stabilisierung
Notstandsgesetze sollen mit der Zustimmung eines gewählten Parlaments nur noch für einen Zeitraum von sechs Monaten erlassen werden dürfen. Danach soll in einer Volksabstimmung über eine etwaige Verlängerung entschieden werden. In den vergangenen 30 Jahren wurden die Notstandsgesetze von Mubaraks Regime zur Unterdrückung jeglicher Opposition genutzt.
Die Befürworter einer raschen Rückkehr zur Zivilregierung, darunter die Muslimbruderschaft, erhoffen sich von den Verfassungsänderungen eine Stabilisierung der Wirtschaft. Allerdings haben Gegner wie El Baradei vor einer Schwächung der Demokratie gewarnt, falls diese zu voreilig eingeführt werde.
Andere Kritiker fordern überdies in sozialen Online-Netzwerken und Werbeanzeigen in Zeitungen, dass die gesamte Verfassung kassiert und vollkommen neu überarbeitet werden müsse. Damit sei gewährleistet, dass Ägypten von weiteren autokratischen Machthabern verschont bliebe.
Furcht der Kopten
Ausserdem wurde erwartet, dass eine überwältigende Mehrheit der ägyptischen Christen sich am Samstag gegen Verfassungsänderungen aussprechen würde. So befürchten viele Christen einen Rückschlag in ihren Bemühungen um Gleichberechtigung, falls die Muslimbruderschaft durch das Referendum an Einfluss gewinnt. Der Anteil der Christen an der ägyptischen Bevölkerung liegt bei zehn Prozent.
Seit Jahrzehnten waren Abstimmungen in Ägypten von umfangreichen Manipulationen und Unregelmässigkeiten begleitet gewesen. Nun gilt die grosse Wahlbeteiligung Beobachtern als Indikator dafür, dass die Bürger offenbar neues Vertrauen in das politische System gefasst haben. (sda)