ETH-Forscherin«Zürich müsste Wohnraum für rund 300’000 zusätzliche Personen zulassen»
Wohnraum ist knapp, darum ist er teuer – das sagt ETH-Forscherin Sibylle Wälty. Sie schlägt massive Verdichtung an den richtigen Orten vor. Zürich müsse um 300’000 Personen wachsen.
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Eine Wohnungskrise war schon länger absehbar.
Darum gehts
Die Wohnraumkrise beschäftigt die Schweiz.
Mieterinnen und Mieter sind erzürnt, die Politik streitet über Lösungen.
Sibylle Wälty hat diese bereits. Sie forscht am ETH Wohnforum zur Raumentwicklung.
Die Schweiz steckt in einer Wohnungskrise. Die neueste Forschung der ETH Zürich bietet Lösungen.
Welche Rolle spielt die Stadtplanung bei der Bekämpfung der Wohnungsnot?
Sibylle Wälty*: Sie ist Teil der Ursache und Teil der Lösung. Mit dem Raumplanungsgesetz haben wir weitere Zersiedelung verhindert und sollten verdichtet bauen. Doch wo, darüber herrscht kein Konsens.
Wo sollten wir verdichten?
In den Städten mit Wirtschaftswachstum und guter ÖV-Anbindung. Dort besteht der dringendste Wohnraumbedarf.
Was heisst sinnvoll verdichten?
Indem an geeigneten Orten Zehn-Minuten-Nachbarschaften entstehen dürfen. Basis ist ein Radius von 500 Metern, in dem idealerweise mindestens 10’000 Einwohnende leben und 5000 Vollzeit arbeiten, ein Verhältnis von 2:1. In diesen 500 Metern ist alles zu Fuss in zehn Minuten erreichbar. Wohnen, Job, ÖV, Detailhandel, Dienstleistungen und Freizeitgestaltung. Der Autogebrauch sinkt dadurch auf unter 15 Prozent.
«In Manhattan leben auf der gleichen Fläche wie der Stadt Zürich 1,7 Millionen Menschen.»
Sieht es in Zürich dann nicht bald aus wie in New York?
Nein. In Manhattan lebten 2020 auf etwa der gleichen Fläche wie der Stadt Zürich 1,7 Millionen Menschen. Auch Paris hat diese Wohndichte, aber ohne Hochhäuser. Städtebaulich kann man verdichtetes Bauen also ganz unterschiedlich ausgestalten.
Wie müsste Zürich sich dann entwickeln?
An den richtigen Stellen Hochhäuser erlauben und bestehende sechsgeschossige Wohngebäude bei Renovationen um zwei Geschosse aufstocken. Wenn die Stadt Zürich nachhaltig verdichten will, müsste sie Wohnraum für rund 300’000 zusätzliche Personen zulassen. Mit dem spürbar grösseren Wohnungsangebot sinken auch die Preise. Im Moment beträgt das Verhältnis Einwohnende zu Arbeitnehmende nicht 2:1, sondern etwa 1:1. Die Hälfte der Beschäftigten wird damit gezwungen, ausserhalb von Zürich zu leben.
Wird ein Gebäude abgerissen und ersetzt, werden die Wohnungen immer teurer.
Das stimmt, das hat aber damit zu tun, dass dann immer noch zu wenig Wohnraum auf den Markt kommt. Um die Probleme auf den einzelnen Objekten zu mildern, könnten Regelungsinstrumente für bezahlbaren Wohnraum einen spürbaren Beitrag leisten, etwa gemeinnütziges Wohnen.
«Investoren können zu einer Quote von Wohnungen zu Kostenmieten verpflichtet werden.»
Weshalb sollte ein Investor freiwillig günstigen Wohnraum anbieten, wenn er diesen auch teurer vermieten könnte?
Bei Aufzonungen kann die Stadt Zürich die Investoren zu einer Quote von beispielsweise einem Drittel Wohnungen zur Kostenmiete verpflichten. Investoren wollen aber kein Verlustgeschäft eingehen, sonst bauen sie keine Wohnungen. Es ist ein Geben und Nehmen.
Heute müssen Mieter vielfach ihre Wohnungen verlassen und können sie nach Renovation oder Neubau nicht mehr bezahlen.
Deutlich höher ist die Zahl der Personen, die gar nie die Möglichkeit haben, in der Stadt Zürich zu leben. Wohnraum ist knapp, und darum ist er so teuer. Es braucht Lösungen mit bezahlbarem Wohnraum auch für diejenigen, die temporär verdrängt werden.
Das klingt einleuchtend, die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind da. Wieso sieht man in Zürich trotzdem noch nicht mehr Hochhäuser?
Wir haben zwar ein Raumplanungsgesetz, aber es wird nicht vollständig umgesetzt. Die Behörden müssen in den Raumplänen eine nachvollziehbare und umfassende Interessenabwägung vornehmen, sonst werden Bauprojekte weiterhin erfolgreich bekämpft. Mit einer gesetzeskonformen Raumplanung kann die Siedlungsplanung mit den zahlreichen Vorteilen des verdichteten Bauens vollzogen werden.
«Weniger weit weg zu wohnen bedeutet weniger Autoverkehr. Das ist gut für das Klima.»
Die da wären?
Wird höher und dichter gebaut, gibt es mehr öffentliche Erdgeschossnutzungen mit Läden, Restaurants und so weiter. Und wo mehr Leute sind, können diese überleben. Auch bleibt so mehr Platz für öffentliche Räume. Ansprechend gestaltet verlagert sich ein Teil des Lebens dorthin. Dann ist man auch mit einer etwas kleineren Wohnung zufrieden. Und weil man nicht mehr weit weg wohnen muss, gibt es weniger Autoverkehr, was gut für das Klima ist.
Sie haben jahrelang an Lösungen geforscht, die Politik setzt kaum etwas um. Ist das nicht frustrierend?
Als Forscherin stehe ich im Dialog mit der Öffentlichkeit. Meine wissenschaftlichen Erkenntnisse sind neu, und mir ist wichtig, dass sie verstanden werden und praktisch umsetzbar sind. Ich bin zuversichtlich: Der öffentliche Dialog der Wissenschaft mit der Politik, Gesellschaft und Wirtschaft ermöglicht einen Wandel hin zu einer ganzheitlich nachhaltigen Raumentwicklung.
*Sibylle Wälty forscht am ETH Wohnforum zur Raumentwicklung und doziert an der ETH Zürich.
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