Kult-Radio Colifata«Ich bin irr, aber nicht blöd»
In Buenos Aires geht jede Woche eine ganze besondere Radiosendung über den Äther – gemacht von den Patienten einer psychiatrischen Klinik. Wahnsinnig – das ist für sie die Welt ausserhalb der Anstalt.
- von
- Camilla Landbø ,
- Buenos Aires

Colifata-Gründer Alfredo Olivera (rechts am Laptop) mit seiner Crew.
«Wir waren Geistesgelähmte, nicht bereit für die irre Welt da draussen, für das internationale Irrenhaus», ruft der bebrillte Hugo López ins Mikrofon. «Jetzt aber müssen wir beginnen, Politik zu machen: Stellt Euch als Abgeordnete und Senatoren auf!» Einige nicken, andere sitzen lethargisch mit eingeknicktem Kopf auf ihrem Stuhl. So auch der 33-jährige Federico López Bruno. Gerade eben hatte er noch eifrig mit sich selbst geredet, jetzt starrt er mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen ins Nichts. Aus den Lautsprechern dröhnt ein eingespielter Satz: «Hallo Buenos Aires, hallo Argentinien, hallo Welt.»
Es ist Samstagnachmittag. Aus der psychiatrischen Klinik José T. Borda in Buenos Aires wird live das Radioprogramm «La Colifata» gesendet. Das spanische Wort «colifato» bedeutet liebevoll gesagt «durchgeknallt». Aktuelle oder ehemalige Patienten sind die Radiomacher. Und nicht nur liebevoll, sondern auch stolz hört man sie während der fünfstündigen Sendung immer wieder mal Sätze sagen wie «Soy un loco – ich bin ein Irrer» oder «Ich bin irre, aber nicht blöd». Sie wissen, wo sie sind und wieso sie hier sind, und das ist völlig in Ordnung. Im Borda werden ausschliesslich Männer hospitalisiert, viele sind schizophren oder manisch depressiv und bleiben für immer.
Federico erwacht aus der Starre und verlangt nach dem Mikrofon. Er stellt sich vor: «Danke, dass ich hier sein darf.» Heute ist es sein erstes Mal bei der Colifata. Federico ist kein Borda-Patient. Sein Psychiater hat ihm den Sender empfohlen. Federico erzählt seiner Hörerschaft, wieso Mate trinken intellektuell und der argentinische Cowboy – der Gaucho – ein Denker ist. Er erklärt, warum psychotische Menschen so viele Zigaretten rauchen: «Wir rauchen impulsiv, damit wir die Psychose ertragen können.» Nachdem er das Mikrofon abgegeben hat, stellt Federico rasch klar, dass er nicht psychotisch sei, sondern einfach immer wieder an seine Grenzen komme. Dann springt er auf und geht eine Zigarette suchen. Er raucht fünf Päckchen pro Tag.
Projekt gegen Ausgrenzung
Seit über 20 Jahren versammeln sich jeden Samstag die «locos» in der Parkanlage des Spitals – unter Bäumen, die Schatten werfen und wo Vögel zwitschern. Für einen Moment verlassen die Insassen die riesigen, grauen Zementblöcke des Borda, die auch innen trist und desolat sind. Aus den Lautsprechern hört man jetzt Reggae-Musik. Einige Patienten wippen auf ihren Stühlen hin und her. Vorne am Tisch, wo ein kleines Mischpult und ein paar Laptops stehen, sitzt und koordiniert der Psychologe und Colifata-Gründer Alfredo Olivera.
«Es war der Versuch eine kommunikative Brücke zwischen den Internierten und dem Resten der Gesellschaft zu bauen», so Olivera. «Die Menschen in der Psychiatrie sind nebst mit ihrer Krankheit mit einem viel schlimmeren Übel konfrontiert: der sozialen Ausgrenzung.» Das Radio habe 1991 ohne politische, finanzielle und technische Unterstützung begonnen. Bereits nach kurzer Zeit habe man bei den Patienten, die an der wöchentlichen Sendung teilnahmen, positive Veränderungen festgestellt.
Nachahmer in Europa
«Aufgrund der Zuhörer-Reaktionen merkten die Internierten, dass das, was sie sagten, auf der anderen Seite der Mauer auch gehört wird», erinnert sich Olivera. Heute wird der weltweit erste über Internet ausgestrahlte Sender aus einer psychiatrischen Anstalt von zahlreichen argentinischen Rundfunkanstalten übernommen und von Kliniken in Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland nachgeahmt.
Manchmal verlassen einige Radioteilnehmer die Runde und verschwinden in der Klinik. Andere Patienten schlurfen heran und gesellen sich neu dazu. Zum Teil sind sie sehr eigensinnig gekleidet: mit Wollkappen, obwohl Sommer ist, oder in Hosen, die beinahe herunterfallen. Hugo teilt über Mikrofon mit, er habe sich für den Friedensnobelpreis präsentiert. Später greift er zur Gitarre, spielt und singt. Sein Nachbar steht auf und tanzt.
Prominente Fans
Hugo ist ein Urgestein bei der Colifata. Der 77-Jährige wurde vor über 20 Jahren im Borda eingeliefert. «Was ich hatte, konnte mir nicht einmal der Psychiater sagen.» Ihm haben Medikamente, Familie und Freunde – und die Colifata! – geholfen, wieder gesund zu werden. Heute lebt er nicht mehr im Borda, besucht aber seit zehn Jahren jeden Samstag die Sendung. Hugo ist bis über die Landesgrenzen bekannt: Er stand mit Manu Chao auf der Bühne. Der spanisch-französische Sänger hatte mit Borda-Insassen eine CD aufgenommen. Auch der US-Filmregisseur Francis Ford Coppola war von den Radiomachern gerührt, er liess 2009 die Colifata-Truppe in seinem Film «Tetro» auftreten.
Das Mikrofon macht weiterhin die Runde. Bei «Radio la Colifata» kommen Philosophen, Krieger des Lichts und Engel zu Wort. Einer der Patienten stellt sich als Polizeikommissar der Provinz Buenos Aires vor. Über eine Stunde wird über Arbeit geredet und gestritten. Danach tragen Patienten selbst geschriebene Gedichte vor und schicken die ersten Neujahrsgrüsse in die Welt hinaus. Für Federico war dieser Samstagnachmittag «sehr bewegend». Er werde ganz bestimmt wiederkommen. Er habe sich wunderbar amüsiert, denn: «So viele Irre an einem Platz potenzieren sich.»
Trailer «LT 22 Radio La Colifata
La Colifata
Das Radio La Colifata sendet jeden Samstagnachmittag von 14.30 Uhr bis 19.30 Uhr Ortszeit (18.30 Uhr bis 23.30 Uhr Schweizer Zeit) auf seiner Webseite.
Im Jahr 2007 veröffentlichte der argentinische Regisseur Carlos Larrondo den Dokumentarfilm «LT22 Radio La Colifata», nachdem er einige Patienten während zehn Jahren mit seiner Kamera begleitet hatte (Trailer siehe unten).