Kraftwerke im Visier«Energie-Ingenieure beraten das russische Militär bei den Angriffen»
Dmitry Sakharuk fürchtet den Komplettzusammenbruch des Energiesektors. 20 Minuten traf den geschäftsführenden Direktor von DTEK, dem grössten privaten Energieproduzenten des Landes, zum Gespräch in Kiew.
- von
- Ann Guenter
Darum gehts
«Ja, das war unser geschäftsführender Direktor», bestätigt die Assistentin. Dmitry Sakharuk (42) war in seinem dunklen Hoody, mit Dreitagebart und Ringen unter den Augen kaum zu erkennen, als er kurz vor dem Interviewtermin vorbeihuschte. Auf der Website von DTEK, einem der grössten Energieunternehmen des Landes, präsentierte er sich noch in Anzug, glattrasiert und energetisch.
«Wissen Sie», sagt die Assistentin in Wollpullover und Jeans, «vor dem Krieg sass ich noch in High Heels und Rock hier im Büro. Aber der Businesslook taugt nichts, wenn man immer wieder in die Schutzräume fliehen muss, wo es kalt ist.»
Man war vorbereitet – «doch damit haben wir nicht gerechnet»
Man habe jetzt andere Sorgen als formelle Kleidung, sagt Sakharuk, als er 20 Minuten in seinem Büro in Kiew empfängt. Der Druck auf ihn muss immens sein – immerhin ist sein Konzern dafür verantwortlich, dass ein grosser Teil des Landes nicht frieren und im Dunkeln sitzen muss, weiterhin kochen, die Handys aufladen und fernsehen kann.
«Wir haben uns vorbereitet, als der Krieg losbrach. Wir füllten die Lager mit Ersatzstücken und nicht verwendeten Generatoren, Turbinen, Transformatoren», sagt Sakharuk. «Doch mit so heftigen und gezielten Attacken wie jetzt im Oktober haben wir nicht gerechnet.»
«Ich bin sicher, dass Ingenieure das russische Militär beraten»
Bei den jüngsten Angriffen vom 10. und 17. Oktober wurden über 30 Prozent der ukrainischen Elektrizitätswerke zerstört. Bislang habe nur etwa ein Fünftel repariert werden können, so Sakharuk.
Sieben DTEK-Kraftwerke seien zeitgleich von mehreren Raketen getroffen worden – wobei sie nicht gegen die Einrichtungen direkt gezielt hätten, sondern auf die grossräumig angelegten Umspannwerke unter freiem Himmel.
«Ich bin sicher, dass Ingenieure das russische Militär darin beraten, wie man einem Energiesystem maximalen Schaden zufügt», sagt Sakharuk. Die Wiederinstandstellung ist aufwendig, denn «es müssen jeweils viele kleine Komponenten repariert werden und der Nachschub der jeweiligen Teile ist problematisch». So brauche man bei DTEK jetzt 20 Leistungsschalter, verfüge aber nur über drei.
Russland soll 29 Einrichtungen im Visier haben
Sakharuk sieht wenig Grund für Optimismus. «Kommt es zu ähnlich heftigen Attacken, wie wir sie jetzt erlebt haben, wird unser Energiesektor endgültig zusammenbrechen.» Dass es dazu kommt, daran hat er keinen Zweifel.
Er geht davon aus, dass Russland insgesamt 29 Einrichtungen in seinem Land im Visier hat. Doch: «Moskau wartet noch bis November, bis es wirklich kalt wird.»
Natürlich verfüge man über leistungsstarke Notstromaggregate und Generatoren. Diese könnten die Spitäler, das Militär und Teile der kritischen Infrastruktur, aber nicht flächendeckend die Städte mit allen Stadtteilen im Land versorgen. Nach den jüngsten Angriffen seien insgesamt 1,4 Millionen Haushalte ohne Strom gewesen. Nach 72 Stunden sei der Spuk für die Mehrheit vorbei gewesen.
«Doch stellen Sie sich das bei Minustemperaturen vor. Wenn dann die Heizungen ausfallen, gefriert das Wasser in den Leitungen und lässt die Heizrohre bersten. Selbst wenn der Strom nach einiger Zeit wieder zurück sein sollte, spielt das dann für viele keine Rolle mehr.»
«Massenmigration – genau wie Wladimir Putin das will»
Im – nicht unwahrscheinlichen – worst case «werden die Menschen auf der Suche nach Wärme nach Europa gehen und es wird zu einer Massenmigration kommen – genau wie Wladimir Putin das will.» Wie auch der Schweizer Botschafter Claude Wild gegenüber 20 Minuten unterstrich, ist der Angriffe auf die Elektrizitätsversorgung eines Landes ein klarer Verstoss gegen internationales Recht.
Die Kraftwerke könnten allein durch Luftabwehrsysteme geschützt werden, sagt Sakharuk und wiederholt den oft gehörten Appell an den Westen, davon möglichst viele und möglichst schnell zu liefern.
Manager mit Schutzweste
Als wir uns verabschieden, fällt der Blick auf eine Schutzweste, die gegen einen Stuhl lehnt. Nicht viele Manager dürften derlei in ihren Büros stehen haben.
Sakharuk zuckt mit den Schultern: «Wir sind erst im Februar in diese Räumlichkeiten gezogen. Am 1. März trafen dann russische Raketen die TV-Antenne gleich nebenan. Es gab fünf Tote. Ich fragte mich damals, ob der Umzug ein Fehler war, ob wir hier wirklich sicher seien.»
Die Antwort darauf habe er am 10. Oktober erhalten. «Eine Rakete traf das blaue Samsung-Hochhaus im Zentrum der Stadt – aus diesem waren wir im Februar eben erst ausgezogen.»