Engpässe wegen Corona: «Ich bin wütend, weil ich keinen Therapieplatz finde!»

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Engpässe wegen Corona«Ich bin wütend, weil ich keinen Therapieplatz finde!»

Alessia (22) ist eine von vielen, die vergeblich einen Therapieplatz suchen – denn die Pandemie lässt die Nachfrage in die Höhe schnellen. So können Betroffene damit umgehen.

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Alessia (22) will in Therapie – kann aber nicht, weil keine Plätze frei sind.

Alessia (22) will in Therapie – kann aber nicht, weil keine Plätze frei sind.

Privat
«Das macht mich so wütend! Ich brauche doch dringend Hilfe», sagt sie.

«Das macht mich so wütend! Ich brauche doch dringend Hilfe», sagt sie.

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Grund ist die grosse Nachfrage nach therapeutischen Angeboten. Laut Sanasearch.ch hat sie seit September um 20 Prozent zugenommen.

Grund ist die grosse Nachfrage nach therapeutischen Angeboten. Laut Sanasearch.ch hat sie seit September um 20 Prozent zugenommen.

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Darum gehts

  • Alessia (22) braucht dringend psychologische Unterstützung – doch sie findet keine Hilfe.

  • Grund: Corona lässt die Nachfrage nach Therapieplätzen steigen, die Plätze sind jedoch beschränkt.

  • Ein Psychiater gibt Tipps, wie Betroffene damit umgehen können.

«Geil. Da habe ich mich einmal überwunden, einen Therapieplatz zu finden und dann haben sie keine Plätze mehr frei.» Die 22-jährige Alessia macht ihrer Wut auf Twitter Luft. Seit sieben Jahren ist sie unter anderem wegen Borderline, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen in ambulanter Therapie. Im Dezember wanderte ihre Therapeutin aus und Alessia nahm es zum Anlass, es «alleine zu schaffen», wie sie gegenüber 20 Minuten sagt.

«Vor ein paar Wochen aber fiel ich wieder in ein depressives Loch. Also suchte ich nach einer neuen Therapeutin.» Dann kam der nächste Dämpfer: «Viele Therapeuten nahmen nicht einmal das Telefon ab», sagt sie. Und wenn sie es doch taten, dann hatten sie keinen Platz mehr frei – nicht einmal auf der Warteliste. «Dass ich keinen Therapieplatz finde, macht mich so wütend! Ich brauche doch dringend Hilfe…»

Corona lässt Nachfrage nach Therapieplätzen steigen

Bereits vor der Pandemie mussten Betroffene Wochen oder Monate auf einen Therapieplatz warten. Corona hat dieses Problem verstärkt: Fast 30 Prozent aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind laut einer Studie von schweren depressiven Symptomen betroffen.

Laut Sanasearch.ch hat die Nachfrage nach therapeutischen Angeboten seit September um 20 Prozent zugenommen. Doch die Plätze bleiben beschränkt. Therapeuten und Therapeutinnen müssen Kinder und Jugendliche wie Alessia teils abweisen und können sie auch nicht weiterverweisen, da auch ihre Berufskolleginnen und -kollegen überlastet sind.

Personen stecken also in einer persönlichen Krise, brauchen professionelle Hilfe, erhalten diese aber erst verzögert. Was können Betroffene in dieser Wartezeit tun, damit sich ihre Problematik nicht verschlimmert?

Gregor Berger ist Leiter des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Notfalldienstes der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und hat ein paar Tipps, was Betroffene in dieser Zeit tun könnten – und wie man überhaupt zu einer Therapie kommt (siehe Box unten):

Rede mit dem Götti oder der Lehrerin

«Jugendliche sollten sich am besten eine erwachsene Person aus ihrem Umfeld suchen, um über ihre Probleme zu sprechen», sagt Berger. Dies können die Eltern, ein Schulsozialarbeiter, eine Lehrerin, der Götti oder eine Tante sein. Wichtig dabei: «Das Ziel der Gespräche darf nicht sein, dass das Gegenüber die Probleme löst. Es reicht, wenn man einfach mal zuhört.»

Joggen, Kuchen backen, Zimmer streichen

Kommt der Körper ins Schwitzen, baut er Stresshormone ab, sagt der Experte. Das mag deine psychischen Probleme nicht lösen, aber die Aktivität kann die Situation für einige Momente entspannen. Auch für Sportmuffel hat Gregor Berger einen Tipp: «Kreative Dinge, wie das Backen eines Kuchens oder das Streichen des Zimmers helfen, die Stimmung ein wenig aufzuhellen.»

Leg das Handy weg

Das Aufrechterhalten oder Etablieren von fixen Tagesstrukturen sei zentral im seelischen Heilungsprozess. «Wer in der Nacht zum Schlafen kommt, hat bereits einen grossen Vorteil», sagt Berger. Denn bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung sei dies nicht immer gegeben.

Um dieses Ziel zu erreichen, empfiehlt der Psychiater, das Handy spätestens eine Stunde vor dem Zubettgehen wegzulegen. Warum? «Chats mit Freunden, Social Media oder auch Netflix-Serien können eine Person emotional aufladen. In einer solchen Stimmung schläft man grundsätzlich schlecht ein. »Besser also, du liest ein Magazin oder du versuchst es mit einem Hörspiel.»

Mach dich müde!

Ja, das mag paradox klingen, aber: Wenn du nach einer halben Stunde im Bett noch immer nicht eingeschlafen bist, rät Gregor Berger, dass du wieder aufstehst. «Zu lange wach im Bett zu liegen, kann zusätzlich stressen.» Du solltest dann versuchen, dich müde zu kriegen.

Tipps für die Suche nach einem Therapieplatz

  • Frage deine Hausärztin oder deinen Hausarzt, ob sie oder er dich an eine therapeutische Fachperson überweisen kann. Je nach Versicherungsmodell deiner Krankenkasse ist dies sogar Voraussetzung.

  • Wenn du den Therapieplatz selbst suchen willst, frage dich, wie flexibel du sein kannst: Wenn du auch ausserhalb deines Wohn- oder Arbeitsorts nach einem therapeutischen Angebot im Internet suchst, vergrösserst du deine Chancen.

  • Kläre bei deiner Krankenkasse ab, welche Therapien sie übernehmen und wie hoch der Selbstbehalt sein wird.

  • Hast du jemand Passendes gefunden? Kontaktiere die Person telefonisch, dann merkst du rasch, ob die Chemie zwischen euch stimmt.

Alessia hat Unterstützung aus ihrem Umfeld gefunden: Ihre Partnerin hat ihr angeboten, eine Mail zu verfassen, welche Alessia dann an die verschiedenen Praxen schicken kann. «Ich bin mega froh um diese Unterstützung. Denn ich gehe davon aus, dass ich noch länger nach einem Therapieplatz suchen werde.»

Suchst du ebenfalls erfolglos nach einem Therapieplatz? Erzähl es uns hier im Formular!

Hast du oder hat jemand, den du kennst, eine psychische Erkrankung?

Hier findest du Hilfe:

Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858

Kinderseele, Onlineberatung für Kinder psychisch kranker Eltern

Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55

Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

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