Binge Eating«Ich esse acht Tafeln Schokolade auf einmal»
Über 200'000 Menschen in der Schweiz leiden an Fressanfällen. Betroffene Leser erzählen von ihrem Alltag mit der Essstörung.
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Etwa drei bis fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung leiden an der sogenannten Binge-Eating-Störung (BES). Die Betroffenen nehmen innert kürzester Zeit mehrere Tausend Kalorien zu sich. Anders als bei Magersucht oder Bulimie sind auch viele Männer betroffen. Betroffene erzählen, wie sie sich im Geheimen vollstopfen und die Kontrolle über ihr Essverhalten verlieren.
Patrick* (25), Zwischen Fitness und einem Kilo Gummibärchen
«Sobald ich etwas Süsses esse, wird in meinem Kopf ein Schalter umgelegt», sagt der angehende Ernährungsberater Patrick*. Der 25-Jährige war lange übergewichtig. Als er mit 21 Jahren seine Ernährung umstellte, Süssigkeiten wegliess und ins Fitness ging, fingen die Fressattacken an. Er wolle dann «ums Verrecke» mehr und stopfe alles in sich hinein, was er in die Finger kriegen könne. So würde es nicht selten vorkommen, dass aus einem Gummibärchen ein ganzes Kilogramm wird, aus einer Tafel Schokolade gleich acht.
«Ich kann mich in dem Moment nicht kontrollieren und stopfe einfach in mich rein, bis ich wieder zur Besinnung komme.» Nach einem solchen Essanfall habe er jeweils ein extrem schlechtes Gewissen. Nur die totale Abstinenz helfe: «Ich halte mich einfach konsequent von Süssigkeiten fern.» Wenn er bei Freunden zu Besuch sei, sei es aber extrem schwierig, sich zu kontrollieren. «Während solcher Fressattacken fühle ich mich, als wäre ich eine andere Person.»
Sophie* (23), Schokolade zum Frühstück
Sophie kann sich nicht erklären, woher ihre Essanfälle kommen. Es sei nie irgendetwas vorgefallen, was sie psychisch belastet habe. Trotzdem leidet die Büroangestellte an einer Binge-Eating-Störung. «Ich esse so viel Schokolade, dass mir danach richtig schlecht wird», sagt Sophie. Bei solchen Fressattacken könne sie sich einfach nicht beherrschen. Die Lust vergehe ihr erst, wenn ihr übel sei. Da sie ausserdem nicht übergewichtig sei, würden andere Leute ihre Sorgen über ihr Essverhalten auch nicht ernst nehmen. «Es herrscht ein grosses Unverständnis in meinem Umfeld.»
Mittlerweile hat Sophie zwar aufgehört, Süsses zu kaufen. Weil sie aber oft für ihre Arbeitskollegen und Nachbarn backe, würden diese immer wieder Süssigkeiten als Dankeschön vorbeibringen. Einen Gefallen tun sie Sophie damit nicht: «Ich werde mittlerweile richtig wütend, weil ich weiss, dass es innert kürzester Zeit wieder weg ist.»
Benjamin* (26): Ein schwarzes Loch im Bauch
«Meist am Abend versucht die Stimme im Kopf einem einzureden, weshalb eine Nascherei doch völlig okay ist», sagt Benjamin. An diesem Punkt verliere er meistens die Kontrolle und leere den Kühlschrank, bestelle beim Lieferdienst Essen oder gehe im Laden säckeweise einkaufen. Sonntage waren aufgrund der geschlossenen Geschäfte früher eine Tortur: «Da wurde dann auch schon einmal Butter mit Knoblauch geschmolzen und getrunken. So zu sagen ein Knobli-Brot ohne das Brot.» Auch kalte Butter in Paniermehl, Honig, Schlagrahm mit Haferflocken und das ein oder andere abgelaufene Produkt mussten dafür schon herhalten, wie er berichtet.
Das Gefühl im Magen sei ein völlig unbefriedigendes: «Ein schwarzes Loch im Magen, bei dem es darum geht, möglichst viel Fett, Zucker, Masse und Textur pro Sekunde zu spüren.» Irgendwann werde einem dann schlecht und schwindelig, vom Zucker und Koffein bekomme man ausserdem Zitteranfälle. «Nach bis zu 10'000 Kalorien sitzt man allein in einem Raum, das Herz schmerzt – auch vom Essen –, die Atmung ist schwer und man fängt an, wieder sich selbst zu sein.» Für Aussenstehende sei man dann die willensschwache Person, die eine Six-Pack-Challenge nötig hätte. Die Konsequenz sei ein Übergewicht, das man fast nicht mehr loswerde. «Das ist überhaupt kein schönes Gefühl», fasst Benjamin zusammen.
Lea* (21): Essen verleiht eine gewisse Leichtigkeit
«Wenn es mir nicht gut geht, dann kann ich bis zu 3000 Kalorien innerhalb kürzester Zeit essen», sagt Lea. Die 21-jährige Studentin leidet seit einigen Jahren an der Binge-Eating-Störung und hat schon alles Mögliche probiert, um wieder zu einem normalen Essverhalten zu finden. Es sei sehr peinlich und beschämend, sich so vollzustopfen. «Zum Beispiel wenn man im Supermarkt an der Kasse steht und aus Scham versucht, seinen Einkauf anderen Leuten gegenüber so gut wie möglich zu verstecken.»
Das Essen verleihe einem halt eine gewisse Leichtigkeit. Längerfristig gesehen mache es einen jedoch nur träge und motivationslos. «Man verliert jegliches Gespür für den Körper.» Schwierig werde es, wenn man eigentlich gern und viel Sport mache, sich durch die Essattacken aber immer mehr zurückziehe.
*Name der Redaktion bekannt.
Neue Therapiemöglichkeit:
«Die Hälfte der Personen, die an zwanghaften Essanfällen leiden, erhalten aber keine angemessene Behandlung», sagt die Psychotherapeutin Dr. Andrea Wyssen. Gemeinsam mit der Professorin Simone Munsch betreut Wyssen ein Pilotprojekt der Uni Freiburg, in welchem sie Binge-Eater übers Internet betreuten. Die Online-Behandlung könne auch Leute erreichen, die nicht in den Städten wohnen und keine Möglichkeit haben, eine spezialisierte Psychotherapie zu besuchen.
Bei der Online-Therapie gibt ein fiktiver Binge-Eater Informationen und Tipps zur Essstörung. Die Ergebnisse von Selbsttests werden dann an einen Psychotherapeuten übermittelt. Einmal pro Woche gibt die Fachperson ausserdem persönliches Feedback. Die ersten Ergebnisse sprechen für sich: Während des Pilotprojekts ging die Anzahl der Heisshungerattacken von durchschnittlich 5.7 auf 2.2 pro Woche zurück.
Die Behandlung dauert acht Wochen, mit einem Follow-Up nach einem, drei und sechs Monaten. «Aufgrund der kurzen Dauer und daher auch einer besseren Wirtschaftlichkeit sollte die Therapie auch für die Krankenkassen interessant sein», schreibt die Uni Freiburg in einer Mitteilung dazu.