Erdbeben in der Türkei «Ich lag mit meinem 10 Tage alten Baby im Arm unter den Trümmern gefangen»
Die 33-jährige Necla Camuz stillte gerade ihren zehn Tage alten Sohn Yagiz, als eine Betonplatte über ihnen einstürzte. Die beiden wurden nach knapp vier Tagen gerettet.

- von
- Karin Leuthold
Darum gehts
Eine Mutter und ihr Baby lagen 90 Stunden unter den Trümmern ihres Hauses.
Dem britischen Sender «BBC» berichtet sie von ihrer Angst, nie gefunden zu werden.
Was ihr Hoffnung gab, war, dass ihr Neugeborener weiter atmete.
90 Stunden lag Necla Camuz mit ihrem zehn Tage alten Sohn Yagiz unter den Trümmern, bis endlich Hilfe kam. Als der Kleine am 27. Januar zur Welt gekommen war, hatte die 33-Jährige ihn Yagiz getauft - der Mutige -, wie sie der «BBC» erzählt. Das ist die Geschichte ihrer Rettung, die Geschichte eines Wunders.
«Um 4.17 Uhr war ich schon wach, um meinen Sohn zu stillen. Mit meiner Familie wohnten wir in einem modernen fünfstöckigen Gebäude in der Stadt Samandag. Es war ein schönes Gebäude, ich fühlte mich dort sicher.»
«Als das Erdbeben begann, wollte ich zu meinem Mann gehen, der im anderen Zimmer war, und er wollte dasselbe tun. Aber als er versuchte, mit unserem anderen Sohn zu mir zu kommen, stürzte der Schrank auf sie und sie konnten sich nicht mehr bewegen.»
«Als das Erdbeben stärker wurde, stürzte die Wand ein, der Raum bebte und das Gebäude veränderte seine Lage. Als es aufhörte, merkte ich nicht, dass ich ein Stockwerk tiefer gefallen war. Ich rief ihre Namen, aber es kam keine Antwort.»
«Das Baby lag auf meiner Brust, ich hielt es noch im Arm. Ein umgestürzter Kleiderschrank, der neben uns stand, rettete uns das Leben, weil er verhindert hatte, dass eine grosse Betonplatte uns zerdrückte. Ich lag in meinem Pyjama unter den Trümmern, es war alles pechschwarz. Ich musste mich auf meine anderen Sinne verlassen, um zu verstehen, was vor sich ging. Ich war aber sehr erleichtert, als ich bemerkte, dass Yagiz noch atmete.»
«Ich war aber sehr erleichtert, als ich bemerkte, dass Yagiz noch atmete.»
«Wegen des Staubs fiel uns das Atmen anfangs schwer, aber das legte sich bald. In den Trümmern hatten wir es warm. Ich hatte das Gefühl, dass unter meinem Körper ein Kinderspielzeug war, konnte mich aber nicht bewegen, um nachzusehen oder es mir bequemer zu machen. Ausser dem Kleiderschrank, der weichen Haut meines neugeborenen Sohnes und der Kleidung, die wir trugen, spürte ich nichts als Beton und Trümmer. In der Ferne konnte ich Stimmen hören. Ich versuchte, um Hilfe zu schreien und schlug gegen den Schrank. ‹Ist da jemand? Kann mich jemand hören?›, rief ich.»
«Als das nicht funktionierte, hob ich die kleinen Trümmerteile auf, die neben uns gefallen waren. Ich schlug sie gegen den Schrank, in der Hoffnung, das wäre lauter. Ich hatte Angst, zu fest gegen die Oberfläche über uns zu schlagen und, dass diese einstürzt.»
«Es antwortete aber niemand. In dem Moment erkannte ich erstmals, dass die Möglichkeit bestand, dass niemand kommen würde. Ich hatte schreckliche Angst. In der Dunkelheit unter den Trümmern verlor ich jegliches Zeitgefühl. So sollte das Leben eigentlich nicht sein. Man plant viele Dinge, wenn man ein neues Baby hat, und dann... liegt man plötzlich unter Trümmern. Ich musste mich aber um Yagiz kümmern und konnte ihn auf engstem Raum stillen.»
«Es gab kein Wasser oder Lebensmittel für mich. In meiner Verzweiflung versuchte ich erfolglos, meine eigene Muttermilch zu trinken.»
«In meiner Verzweiflung versuchte ich erfolglos, meine eigene Muttermilch zu trinken.»
«Ich konnte das Rumpeln der Bohrer über mir spüren und Schritte und Stimmen hören, aber die gedämpften Geräusche schienen weit weg zu sein. Ich beschloss, meine Energie zu sparen und still zu sein, bis die Geräusche von draussen näher kamen.»
«Ich dachte ständig an meine Familie, an Yagiz und an meinen Ehemann und meinen anderen Sohn. Ich glaubte nicht, dass ich es aus den Trümmern schaffen würde, aber Yagiz gab mir einen Grund, hoffnungsvoll zu bleiben. Er schlief die meiste Zeit, und wenn er weinend aufwachte, fütterte ich ihn leise, bis er sich beruhigt hatte.»
Am Donnerstag hörte Necla Hundegebell. Ein Rettungstrupp aus Istanbul, der in der Provinz Hatay im Einsatz stand, hatte sie gefunden.
«Ich fragte mich, ob ich träumte. Nach dem Bellen hörte ich Stimmen. ‹Alles in Ordnung? Klopfen Sie einmal für ja›, rief einer. Die Retter gruben sich vorsichtig in den Boden, um uns zu finden, während ich Yagiz festhielt. Die Dunkelheit wurde durch das Licht einer Taschenlampe durchbrochen, die mir in die Augen leuchtete.»
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