SP-Nationalrat«Ich wurde angegriffen, weil ich schwul bin»
Homophobe Gewalt tauchte bis heute in keiner Statistik auf. Für Nationalrat Angelo Barrile ein Versäumnis – er wurde selber Opfer eines Angriffs.
- von
- J. Büchi
Herr Barrile, eine private Meldestelle erfasst in der Schweiz neu Gewalt gegen Lesben, Schwule und Transmenschen. Sie unterstützen das Projekt aktiv – warum?
Wir sprechen hier von Hate Crime, von Hassverbrechen: Leider kommt es auch in der Schweiz regelmässig vor, dass Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung Opfer von Gewalt werden. Oft schämen sich die Betroffenen, melden die Tat nicht oder denken sogar, sie seien selber schuld. Das muss sich ändern: Das Thema gehört auf den Tisch. Es stört mich, dass es bis heute keine Statistik gibt, die solche Gewalttaten erfasst.
Haben Sie selber Erfahrungen mit homophober Gewalt gemacht?
Ja. Als ich 23 Jahre alt war, haben mich Fremde angegriffen, weil ich schwul bin. Passiert ist es mitten im Zürcher Niederdorf – und niemand hat reagiert. Ich war mit meinem Partner unterwegs: Wir haben uns weder geküsst noch an den Händen gehalten, aber man sah, dass wir zusammengehörten. Plötzlich begannen Leute, uns anzupöbeln. Sie überschütteten uns mit Bier und schmetterten uns Dosen ins Gesicht.
Wie haben Sie und Ihr Partner reagiert?
Wir versuchten, ruhig zu bleiben. Wir wehrten uns nicht körperlich, sondern sagten bestimmt: «Zeigen Sie uns Ihren Ausweis!» Irgendwie hat das gewirkt, die Täter rannten davon. Anschliessend gingen wir zur Polizei. Doch der diensthabende Polizist wollte die Anzeige zunächst nicht entgegennehmen. Er sagte: «Wahrscheinlich haben Sie die Angreifer provoziert und sich in der Öffentlichkeit geküsst.» Ausserdem würden die Täter sowieso nicht gefasst.
Also verzichteten Sie auf eine Anzeige?
Nein. Ich drohte, mich an den Stadtrat zu wenden, da lenkte der Polizist ein. Ich weiss, dass die Stadtpolizei heute anders reagieren würde und für das Thema sensibilisiert ist. Damals aber fühlte ich mich sehr alleingelassen.
Wie haben Sie das Erlebte verarbeitet?
Nur der engste Kollegenkreis wusste davon. Den Eltern habe ich nichts erzählt, damit sie sich keine Sorgen machen. Für mich selber war das Erlebnis sehr einschneidend: Ich habe mich lange nicht mehr getraut, in der Öffentlichkeit Hand in Hand herumzulaufen. Irgendwie suchte ich den Fehler bei mir selbst, auch wenn ich eigentlich wusste, dass das Blödsinn ist.
Nur weil Übergriffe in einer Statistik erfasst werden, verschwinden sie nicht. Was erhoffen Sie sich konkret von der Meldestelle?
Zunächst einmal, dass wir eine Ahnung davon bekommen, wie häufig solche Übergriffe tatsächlich passieren. Erst kürzlich sprach ich mit einem 20-Jährigen, der ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hat wie ich. Die Bevölkerung und die Politik müssen für die Problematik sensibilisiert werden. Nach dem Attentat in einem Schwulenclub in Orlando flackerte das Thema im Sommer kurz auf, es verschwand aber sogleich wieder von der Bildfläche.
Was erwarten Sie von der Politik?
Grundsätzlich sollten nicht private Organisationen Buch über solche Straftaten führen müssen – das ist Aufgabe der Behörden. Ich bin ich der Meinung, dass man mit homophober Gewalt ähnlich umgehen müsste wie mit häuslicher Gewalt: Sie ist heute zu Recht ein Offizialdelikt. Schliesslich ist es auch wichtig, dass angehende Polizisten in allen Kantonen in ihrer Ausbildung für das Thema sensibilisiert werden. Ich prüfe einen entsprechenden Vorstoss im Parlament.