Antisemitismus in Schweizer Grandhotel In Zimmer 156 logierte der geflüchtete Jude – nebenan der hochrangige Nazi
«Stinkjude», «Preisdrücker» oder «dreckige Gesellschaft»: Das notierten die Mitarbeiter des Waldhaus Vulpera nahe Scuol jahrzehntelang neben die Namen jüdischer Gäste. Nachzulesen ist dies auf den alten Gästekarten des Hotels.
- von
- Patrick McEvily
Darum gehts
Das Waldhaus Vulpera nahe Scuol begrüsste über 90 Jahre lang gut betuchte Gäste aus der ganzen Welt.
1989 brannte der Prunkbau vollständig ab. Danach wurde es ruhig um das Haus, obwohl man in den Unterlagen der Hotelleitung wichtige Angaben vermutete.
Der letzte Direktor des Hotels hat nun über 20’000 Dokumente an Historikerinnen und Historiker übergeben.
In den Gästekarten wimmelt es von antisemitischen Beschreibungen und Verunglimpfungen.
1989 brennt das Waldhaus Vulpera nahe Scuol in den Bündner Bergen komplett ab. Über 90 Jahre lang waren zuvor illustre Gäste im Grandhotel in den Bündner Bergen ein- und ausgegangen. Um wen es sich dabei genau handelte, blieb lang im Dunkeln. Nun hat der letzte Direktor des Hotels die Gästekarten aus der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg offengelegt. Es zeigt sich: Im Haus weilten geflüchtete Juden mit Nazi-Grössen aus Deutschland Tür an Tür.
Wie der «Spiegel» (Bezahlartikel) berichtet, hat eine Gruppe Historikerinnen und Historiker nun genauer hingeschaut und 20’000 Gästekarten aus den Jahren 1921 bis 1961 untersucht. Auf diesen wurden neben dem Zeitpunkt der An- und Abreise auch Angaben zu den Gästen oder Beschreibungen zu ihnen notiert. Wer dem jüdischen Glauben angehörte, war im Grandhotel demnach meist kein gern gesehener Gast. In den Dokumenten wimmelt es von antisemitischen Beschreibungen. Jüdische Gäste wurden als «Stinkjude», «Preisdrücker» oder «dreckige Gesellschaft» bezeichnet. Ausserdem mussten sie oft höhere Preise bezahlen.
Die Funde sind im Band «Keine Ostergrüsse mehr!» enthalten, der diesen Mai in zweiter Auflage erscheinen soll. Die erste Auflage ist bereits vergriffen. Der österreichische Fotograf Lois Hechenblaikner hat ihn zusammen mit mehreren Mitwirkenden verfasst, darunter auch der Schweizer Martin Suter. Dieser bezeichnet den Fund gegenüber dem «Spiegel» denn auch als «Sensation».
«Jetzt wird er wohl gestorben sein – fertig, lustig»
Das Waldhaus Vulpera wurde in den Jahren 1896-97 gebaut und war der ganze Stolz der Hoteliersfamilie Pinösch, die im ganzen Kanton Graubünden aktiv war. Dieser war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beliebter Ferienort für deutsche Gäste. Mitglieder der nationalsozialistischen Partei reisten so gerne in die Schweiz, dass Davos in den 1930er-Jahren gar den unrühmlichen Spitznamen «Hitlerbad» erhielt. In der Berliner U-Bahn hingen Plakate, die die frische Bergluft anpriesen.
Mehrere Gäste des Vulpera wurden später von den Nazis entführt und getötet. Auf den Gästekarten wurde ihr Verschwinden ganz salopp mit «Jetzt wird er wohl gestorben sein – fertig, lustig» quittiert. Hochrangige Nazis waren hingegen gern gesehene Gäste im Vulpera. Gauleiter, SA-Kader und Vorstände des Chemieunternehmens IG Farben, das massgeblich am Betrieb der Konzentrationslager beteiligt war, stiegen im noblen Bündner Hotel ab.
Auch nach 1945 verunglimpfte die Hotelleitung jüdische Besucherinnen und Besucher in den Gästekarten. Diese wurden mit Codewörtern markiert und von den Mitarbeitern gar in Klassen eingeteilt: Mit dem Buchstaben P wurde angemerkt, was man vom jeweiligen Gast hielt: je mehr Ps, desto «schlimmer». So stand dann über einem deutschen Geschäftsmann, der vor den Nazis geflüchtet war: «PPP unansehnlicher Kerl». Trotzdem waren während des ganzen Krieges und danach immer wieder gut betuchte jüdische Gäste ins Engadin gekommen.
Königinnen, indische Maharadschas und Friedrich Dürenmatt
Das Vulpera strahlte in die ganze Welt hinaus. Gemäss der Webseite des Historikers Jochen Ziegelmann gastierte bereits drei Jahre vor der grossen Eröffnung mit der niederländischen Königin Wilhelmina erstmals eine Monarchin im Vorgängerhotel. Es sollten noch viele weitere folgen – 1937 verstarb sogar eine indische Fürstin vor Ort. Bei Schweizer Parlamentariern war das Haus ebenfalls sehr beliebt und auch der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt war häufiger Gast. In seinem letzten Roman «Durcheinandertal» gab er dem Vulpera gar eine Hauptrolle: In der Geschichte brennt das Hotel nämlich ab. Es sollte sich als eine fatale Vorahnung herausstellen.
Über die Jahrzehnte fanden auch mehrere internationale Filmproduktionen im Haus statt. Ab den 1970er-Jahren begann der Stern des Grandhotels aber weniger stark zu leuchten. Es kam zu mehreren Besitzerwechseln, bis die Vulpera AG 1983 schliesslich den Konkurs anmelden musste. Nach einer kurzweiligen Wiedereröffnung fand das Haus im Jahr 1989 sein unrühmliches Ende: Es brannte komplett ab. Die Brandursache wurde nie ganz geklärt. Auf der Webseite des Historikers Jochen Ziegelmann ist jedoch nachzulesen, dass das Feuer an zwei Stellen ausgebrochen war – Brandstiftung konnte also nicht ausgeschlossen werden. Heute stehen noch einige Teile der Aussenanlage des Waldhaus Vulpera. Und auch Hotelgäste finden sich im gleichnamigen Ortsteil von Tarasp noch ein. Mehrere Hotels befinden sich in der Nähe.
Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg
Die von den Historikerinnen und Historikern zusammengetragenen Fakten aus dem Vulpera erweitern das Bild der Schweiz im Zweiten Weltkrieg um ein weiteres Kapitel. In den Jahrzehnten nach Kriegsende war es um die Rolle des Landes relativ still geblieben. In den 1990er-Jahren brach jedoch eine Diskussion um jüdische Vermögen, die in die Schweiz geschafft worden waren, aus. Während drei Jahren kam es zu einem Rechtsstreit zwischen der Schweiz und Vertretern jüdischer Familien. Schliesslich wurde im Rahmen der sogenannten «Bergier Kommission» entschieden, dass die Schweizer Banken insgesamt 1.16 Milliarden Franken an die Hinterbliebenen der Opfer der Nationalsozialisten zahlen mussten. Erst im Jahr 2013 wurde der Fall vollumfänglich abgeschlossen.
2013 flammte die Diskussion dann wieder auf, als sich herausstellte, dass das Berner Kunstmuseum Raubkunst erhalten hatte. Vermacht hatte es ihm Cornelius Gurlitt, dessen Familie während des Zweiten Weltkriegs nachweislich Kunstwerke von jüdischen Familien gestohlen hatte.
Bist du oder ist jemand, den du kennst, von Antisemitismus betroffen?
Hier findest du Hilfe:
GRA, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
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