Flut an Abstimmungen: «Initiativen werden als Propaganda benutzt»

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Flut an Abstimmungen«Initiativen werden als Propaganda benutzt»

Dürfen Initiativen als Wahlkampfmittel missbraucht werden? Nein, findet der ehemalige Staatssekretär Jean-Daniel Gerber und fordert höhere Hürden. Politologen widersprechen.

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Die Zahl der Volksinitiativen hat in den letzten Jahrzehnten ständig zugenommen. Während das Instrument vor den 1970er-Jahren kaum genutzt wurde, stimmten die Bürger in den 1980er-Jahren im Schnitt über 2,9 Initiativen ab. In den Nullerjahren waren es bereits 3,6 pro Jahr. Würde man die Zahl seit 2011 bis Ende 2013 auf das ganze Jahrzehnt hochrechnen, käme man auf 4,3.

Nicht alle haben Freude an dieser Flut: So verlangte der ehemalige Staatssekretär Jean-Daniel Gerber in der «NZZ» höhere Hürden. «Initiativen werden heute zunehmend für Sonderinteressen oder für Werbezwecke genutzt», bemängelt Gerber.

Ablenkung von richtigen Problemen?

Sie hielten zudem Bundesrat und Parlament davon ab, die wahren Probleme des Landes zu lösen. Stattdessen müssten sie sich mit den betreffenden Anliegen beschäftigen. Weiter glaubt Gerber, dass das Interesse an Abstimmungen verloren geht, wenn die Bürger zu häufig an die Urne gerufen werden.

Dass Initiativen ein gutes Wahlkampfmittel sind, hat insbesondere die SVP in den letzten Jahren entdeckt, mit Abstimmungen zu Ausschaffungen oder der Volkswahl des Bundesrats. «Die Nutzung von Initiativen als Propagandamittel hat zugenommen», sagt Politologe Marc Bühlmann von der Uni Bern.

Mehr «Ja» als früher

Laut Daniel Kübler, Direktor des Zentrums für Demokratie Aarau, ist die Häufung nicht von heute auf morgen gekommen. Vielmehr habe sich das über die Jahre hinweg so entwickelt. «Neu ist, dass in letzter Zeit vermehrt Initiativen angenommen wurden.»

Mit der Höhe der Hürden habe das nichts zu tun. «Der Grund dafür ist vielmehr, dass die erfolgreichen Initianten Anliegen aufnehmen, die von den Politikern ignoriert werden.» Als Beispiel nennt Kübler die Abzocker- oder die Zweitwohnungsinitiative.

Bündnerfleisch im Parlament

Trotzdem sei es einfacher geworden, ein Begehren zu lancieren, sagt Kübler: «Während die Bevölkerung seit den 1970er-Jahren enorm gewachsen ist, hat sich die nötige Anzahl Unterschriften nicht verändert.» Sie liegt heute unverändert bei 100'000. «Zudem sind die Initianten dank Social Media heute viel besser vernetzt, was die Sammlung ebenfalls erleichtert.»

Dem widerspricht Politologe Marc Bühlmann. «Die Verbreitung einer Idee ist sicher einfacher geworden. Das Sammeln von Unterschriften ist aber immer noch schwierig.» Anders als Staatssekretär Gerber ist Bühlmann zudem nicht der Meinung, dass die vielen Initiativen das politische System überlasteten: «Diese These gibt es seit den 1950er-Jahren.» Kübler sieht das ähnlich: «Wenn das Parlament Zeit hat, die Qualität von Bündnerfleisch zu diskutieren, sollte auch genügend Zeit für Initiativen vorhanden sein.»

Teilnahme nimmt zu

Er entkräftet Gerbers Befürchtung, dass eine Zunahme an Abstimmungen die Bürger ermüde. «Wir haben das Thema in einer Studie untersucht und sind zum umgekehrten Schluss gekommen: Je mehr Vorlagen an einem Termin zur Abstimmung kommen, desto höher ist tendenziell die Teilnahme.»

Die Forderung nach höheren Hürden für Volksinitiativen lehnt Marc Bühlmann ab: «Einerseits müsste man die Hürden massiv erhöhen. Eine Verdoppelung der nötigen Unterschriften würde bei Weitem nicht ausreichen, um die Anzahl zu reduzieren.» Andererseits seien die vielen Abstimmungen Ausdruck einer lebendigen Bürgergesellschaft: «Es ist doch wunderbar, wenn die Bürgerinnen und Bürger ihre Anliegen einbringen.» Das belebe das politische System – und zwinge die Politiker dazu, Stellung zu nehmen zu Themen, die sie sonst nicht aufgriffen.

«Keine Chance»

Daniel Kübler vom Demokratiezentrum begrüsst zwar eine Debatte über höhere Hürden. Dass das Volk eine entsprechende Änderung annehmen würde, glaubt er dennoch nicht: «Das Anliegen hätte wohl keine Chance.»

Infografik zu den Volksinitiativen:

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