Psychische Erkrankungen«IV-Renten für unter 30-Jährige sind furchtbar»
Laut dem Psychologen Niklas Baer wird heute zu schnell eine IV-Rente ausbezahlt. Das raube den Bezügern das Selbstvertrauen.
- von
- B. Zanni
Herr Baer, die Sozialkommission des Nationalrats will im Rahmen der IV-Revision unter 30-Jährigen mit psychischen Erkrankungen keine IV-Rente mehr bezahlen. Ist das eine gute Idee?
Ja, wenn man sie richtig anpackt. Junge Menschen mit psychischer Erkrankung erhalten viel zu schnell eine Rente. Oft werden ein, zwei Eingliederungsversuche in den Arbeitsmarkt gemacht. Klappen sie nicht, erhalten die Betroffenen viel zu rasch eine IV-Rente.
Sie stellen die Rente von jungen IV-Bezügern mit einer diagnostizierten psychischen Erkrankung in Frage. Es geht um Menschen, die kaum mehr in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Ihnen die Rente zu streichen, wäre unmenschlich.
Diese jungen Menschen haben deutliche Beeinträchtigungen wie Schizophrenie und Persönlichkeitsstörungen und brauchen häufig länger, bis sie sich stabilisiert haben und sich auf ein Integrationsprogramm richtig einlassen können. Manchmal braucht es viel mehr Zeit. Einige brauchen, bis sie 30 Jahre alt sind oder älter, um zu entscheiden, ob eine IV-Rente die einzige Lösung ist. Doch anstatt ihnen diese Zeit zu geben, brechen die Verantwortlichen die Massnahmen ab. So werden viele junge Menschen viel zu früh fallen gelassen.
Verloren ist trotzdem nicht alles. Die Betroffenen können doch jederzeit einen neuen Eingliederungsversuch starten.
Die Realität sieht leider anders aus. Erhalten unter 30-Jährige eine IV-Rente, kommen sie in der Regel nicht mehr davon weg. Sie gewöhnen sich daran. Eine junge Frau sagte mir einmal: «Der grösste Fehler, den man bei mir machte, ist, dass man mir eine IV-Rente gab.»
Was ist so fatal an der IV-Rente?
Die Rente nimmt die Bezüger gefangen. Ihr Selbstvertrauen geht flöten. Aus Angst zu scheitern, wagen sie keine Versuche mehr, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Es ist furchtbar. Das sollte man den Jungen nicht antun, man sollte sie nicht so früh aus der Gesellschaft nehmen.
Wie sieht der Alltag von jungen IV-Bezügern aus?
Sie müssen jeden Tag überlegen, was sie mit ihrem Tag anfangen sollen. Oft schaffen sie es aber nicht, eine Struktur in ihren Alltag zu bringen. Teilweise sitzen sie nur zu Hause und gamen. Manche vereinsamen zusehends. Da IV-Bezüger nur wenig Geld zur Verfügung haben, können sie sich auch oft nicht von ihrem Elternhaus ablösen und sind am Ende auch als Erwachsene noch abhängig von Mutter und Vater.
Sehen Sie die Zukunft für unter 30-Jährige ohne IV-Rente nicht zu rosig? Gegner befürchten, dass sich das Problem ohne IV-Rente verlagert und die jungen Menschen in die Sozialhilfe abrutschen.
Die Sozialhilfe ist natürlich keine Alternative. Es geht mir nicht darum, junge psychisch kranke Menschen in eine andere finanzielle Unterstützung einzuteilen. Ziel ist, sie zu aktivieren und bestehende Massnahmen weiterzuziehen. Die IV und die Arbeitgeber müssen mehr in diese jungen Menschen investieren. Sie müssen die Integrationsmassnahmen verlängern. Kann ein junger Mensch mit psychischer Erkrankung zum Beispiel über längere Zeit betreut arbeiten, sind die Chancen intakt, dass er sich wieder auffängt.