Desaster in JapanJapans Mafia profiliert sich in der Katastrophe
In Krisenzeiten macht die japanische Yakuza auch noch anderes als erpressen, betrügen und einschüchtern: Sie verteilt Hilfsgüter an die notleidende Bevölkerung.
- von
- Antonio Fumagalli

Nach dem verheerenden Erdbeben in Japan werden Hilfsgüter an die betroffene Bevölkerung verteilt. Gut möglich, dass sich darunter auch Lieferungen von der Yakuza befinden.
Nach dem verheerenden Erdstoss, der Japan tiefgreifend verändert und die Welt erschüttert hat, vergingen nur Stunden, bis die Mafia in Aktion trat: Die Inagawa-kai, eine der einflussreichsten Banden im Land der aufgehenden Sonne, schickte 25 Lastwagen ins Erdbebengebiet in der Region Tohuku. Deren Ladung: Papierwindeln, Taschenlampen und jede Menge Getränke und Esswaren. Auch das mächtigste Syndikat Yamaguchi-gumi versorgt derzeit die notleidende Bevölkerung mit dem Nötigsten – ohne sich vor radioaktiver Strahlung zu fürchten. «In Krisenzeiten nimmt die Yakuza, wie die Mafia in Japan genannt wird, auch stets eine humanitäre Rolle ein», sagt Jake Adelstein, intimer Kenner des organisierten Verbrechens in Japan gegenüber 20 Minuten Online.
Das war 1995 nicht anders: Beim desaströsen Erdbeben von Kobe waren die Yakuza-Mitglieder die Ersten, die den Überlebenden Decken und Lebensmittel verteilt und dafür gesorgt haben, dass Plünderungen weitgehend ausblieben. Der Staat versagte dagegen auf der ganzen Linie: Dringend benötigte Güter kamen erst mit tagelanger Verspätung im Krisengebiet an, Notunterkünfte wurden gar nicht erst bereitgestellt.
Mafiosi mit Visitenkarten
Um die Rolle der Yakuza als Krisenmanagerin zu verstehen, muss man den Hintergrund des organisierten Verbrechens in Japan kennen. Anders als in unseren Breitengraden operiert die Mafia nicht im Untergrund, die blosse Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation ist denn auch nicht strafbar. Die verschiedenen Yakuza-Gruppen haben ihre Hauptquartiere ganz offiziell in gläsernen Bürokomplexen und ihre Mitglieder – in ganz Japan seit Jahrzehnten ziemlich konstant rund 80 000 Personen – weisen sich schon mal mit Visitenkarten aus. Sechs regelmässig erscheinende Fan-Zeitschriften geben ihnen gar eine Plattform, sich einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.
Entsprechend gross ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Yakuza. Seit Beginn der Neunzigerjahre gehen die Behörden zwar repressiver gegen sie vor, in der öffentlichen Auffassung ist sie aber noch immer ein notwendiges Übel, um die Kriminalitätsrate niedrig zu halten. «Die Yakuza spielt bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eine wichtige Rolle», sagt Adelstein. Bezeichnend sei beispielsweise der Staatsbesuch von US-Präsident Obama im vergangenen November gewesen: Damals habe die Polizei alle lokalen Mafia-Bosse kontaktiert und sie angehalten, sich ruhig zu verhalten und Probleme zu verhindern. So lange sie nicht im grossen Stil negativ auffalle, habe der Staat also durchaus ein Interesse an einer intakten Struktur der Yakuza. «Zudem gibt es nicht genügend Kapazitäten, um zehntausende Mitglieder in Gefängnisse zu stecken», so Adelstein.
Kriminelle Machenschaften
Bei aller Philanthropie in Krisenzeiten: Die Yakuza darf nicht verklärt werden. Sie verdient ihren Unterhalt mit Erpressungen, illegalen Finanztransaktionen, Schutzgeldeintreibungen, Prostitution und Glückspielen – also durchaus auch Geld, das sie dem «kleinen Mann» abknöpft. Umso zynischer scheint es, wenn sie nun dem notleidenden Volk einen Teil zurückgibt. Geht es also letztendlich um Werbung in eigener Sache? «Das kann ich mir nicht vorstellen. Wenn es eine PR-Aktion sein sollte, dann ist sie miserabel ausgeführt», so Adelstein. Ein ihm persönlich bekanntes Mafia-Mitglied habe erzählt, dass sie sich bewusst nicht zu erkennen gäben, damit die Hilfe nicht von den Behörden zurückgehalten werde. Ein anderer hat ihm gesagt: «Derzeit gibt es keine Yakuza-Mitglieder, keine Normalbürger und keine Ausländer. In diesen schweren Zeiten sind wir alle Japaner.»
Ob aus Nächstenliebe oder durchtriebenem Geschäftssinn – die Hilfslieferungen scheinen die Not der betroffenen Bevölkerung auf jeden Fall zu lindern. Sie ist gar so effizient, dass Jake Adelstein seinen persönlichen Beitrag in die Hände der Yakuza gegeben hat, anstatt die offiziellen Kanäle zu benutzen: «Ich habe einem Yakuza-Mitglied zwei Kisten mit Hilfsgütern aller Art überbracht. Da weiss ich, dass sie sicher ankommen.»

Jake Adelstein gilt als profiliertester ausländischer Kenner der Yakuza. Der Amerikaner arbeitete während zwölf Jahren als Reporter für die grösste japanische Zeitung und war danach als Berater in Japan-Fragen für die US-Regierung tätig. Sein Buch «Tokyo Vice» über das organisierte Verbrechen in Japan war ein Kassenschlager und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Adelstein hat laut eigener Aussage «gute Beziehungen» zu rund fünf Mafiabossen und mehreren Mittelmännern.