Epidemiologin : «Je länger man wartet, desto teurer wird es»

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Epidemiologin «Je länger man wartet, desto teurer wird es»

Die Epidemiologin Olivia Keiser von der Uni Genf fordert, dass die Schweiz rasch Corona-Massnahmen ergreift. Das Ausland könne der Schweiz als Vorbild dienen.

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Zum einem Lockdown soll es nicht wieder kommen. 

Zum einem Lockdown soll es nicht wieder kommen.

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Ist für eine erweiterte Maskenpflicht: die Epidemiologin Olivia Keiser. 

Ist für eine erweiterte Maskenpflicht: die Epidemiologin Olivia Keiser.

Zentral bleibt in der Schweiz das Testen. Bald sollen auch Schnelltests zum Einsatz kommen.

Zentral bleibt in der Schweiz das Testen. Bald sollen auch Schnelltests zum Einsatz kommen.

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Frau Keiser, die Corona-Zahlen in der Schweiz steigen weiterhin steil an. Wie beurteilen Sie die Lage?

Die Situation ist höchst alarmierend. Der Bundesrat sollte wieder den Lead übernehmen. Die Zurückhaltung einiger Kantone – etwa bei der Maskenpflicht – ist aus epidemiologischer Sicht unverständlich, zudem wären die Verantwortlichkeiten und die Kommunikation klarer.

Sehen Sie in der Schweiz eine zweite Welle?

Es gibt keine allgemeingültige Definition. Wir sehen aber eine starke Zunahme sowohl bei den Fallzahlen als auch bei den Hospitalisierungen. Darum kann man schon von einer zweiten Welle sprechen. Dazu passt, dass der Anteil der positiven Tests deutlich angestiegen ist. Das deutet darauf hin, dass wir viele Fälle gar nicht mehr finden.

«Es ist dringend notwendig, dass die Schweiz rasch strengere Massnahmen ergreift.»

Olivia Keiser

Die Fallzahlen steigen in fast ganz Europa. Auch in Belgien, den Niederlanden, Frankreich, Grossbritannien oder Tschechien ist die Zahl der Ansteckungen zuletzt explodiert. Was kann die Schweiz in der jetzigen Situation tun, um Lockdowns zu verhindern?

Es ist dringend notwendig, dass sie rasch strengere Massnahmen ergreift. Die Schweiz hat eines der lockersten Regimes in ganz Europa. In Schweden etwa sind nur Veranstaltungen bis 50 Personen erlaubt. Machen wir weiter wie bisher, droht eine Überlastung des Gesundheitssystems. Dann bleiben eventuell nur noch radikale Massnahmen wie ein Lockdown – und das will ich nun wirklich nicht. Je länger man wartet, desto schwieriger und auch teurer wird es.

Corona-Infos

  • Wie entwickeln sich die Corona-Fälle in der Schweiz und in Europa? Wie siehts in meinem Kanton aus? Den Überblick über die wichtigsten Zahlen gibts hier.
  • Welche Corona-Massnahmen gelten in den Kantonen? Eine Übersicht gibts hier.
  • Für Rückkehrer aus welchen Staaten und Gebieten gilt eine Quarantänepflicht in der Schweiz? Die aktuelle Quarantäne-Liste gibts hier.

Welche Massnahmen ergeben aus Ihrer Sicht Sinn?

Einfach umzusetzen sind zum Beispiel eine generelle Maskenpflicht in allen Innenräumen – auch in Büros. Denn es mehren sich die Hinweise, dass ein beträchtlicher Teil der Ansteckungen über sogenannte Aerosole passiert, obwohl der Abstand grösser ist als die eineinhalb Meter. Vermehrtes Lüften und allenfalls Einsatz von CO2-Metern würde deshalb auch Sinn ergeben. Das Alter für die Maskenpflicht bei Kindern könnte auch herabgesetzt werden – es ist klar, dass Kinder das Virus auch übertragen. Hier sollte man schauen, was das Ausland macht. Denkbar wäre aus meiner Sicht eine Pflicht ab etwa sechs Jahren. Zudem müsste die Homeoffice-Empfehlung erneuert werden. Das Contact-Tracing sollte unbedingt beibehalten werden und könnte bei Bedarf eventuell durch den Zivildienst oder die Armee verstärkt werden.

«Eine Schliessung der Restaurants träfe die Branche hart.»

Olivia Keiser
Olivia Keiser ist Mitglied der Covid-Taskforce des Bundes. 

Olivia Keiser ist Mitglied der Covid-Taskforce des Bundes.

zvg

Grossbritannien beschränkt private Treffen an vielen Orten auf sechs Personen, in Belgien darf man nur noch vier Personen treffen. Die Niederlande hat bereits Restaurants und Cafés dichtgemacht. Geht das nicht zu weit?

Nein. Die Beschränkung der Kontakte ist eine effektive Massnahme, weil sie die Ausbreitung des Virus bremsen kann. Sie ist auch in der Schweiz angezeigt, weil gerade im Privaten keine ausgefeilten Schutzkonzepte vorhanden sind. Aus epidemiologischer Sicht wäre auch eine Schliessung der Restaurants sinnvoll. Allerdings träfe das die ganze Branche hart. Hier könnte man versuchen, die Lüftungssysteme aufzurüsten.

Was bringen die Schnelltests, die kurz vor der Einführung stehen sollen?

Auf ihnen ruhen grosse Hoffnungen. Sie würden das Testen massiv vereinfachen und würden dabei helfen, Ansteckungen früher zu erkennen. Sie könnten auch möglichen Engpässen im Testen entgegenwirken. Weil sich infizierte Personen schneller isolieren und Kontaktpersonen schneller gewarnt werden, könnte so die Ausbreitungsgeschwindigkeit gesenkt werden. Allerdings sind sie etwas weniger genau als die PCR-Tests.

Warum sind die Fallzahlen eigentlich plötzlich explodiert? Die Leute verhielten sich ja nicht von einem Tag auf den anderen Tag komplett anders.

Dazu gibt es tatsächlich nur Hypothesen. Eine Theorie ist, dass sich ab einer gewissen Zahl von Fällen Superspreading-Events häufen. Auch das kühlere Wetter, das die Leute nach drinnen treibt, oder ein Contact-Tracing, das zunehmend an den Anschlag kommt, sind mögliche Erklärungen dafür, dass die Lage plötzlich kippt.

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