Härtere Strafen Jeder fünfte Vergewaltiger muss nicht ins Gefängnis
Vergewaltigungs-Prozesse sind Alltag an Gerichten. Viele Verurteilte müssen nie ins Gefängnis. Nun will der Bundesrat das Gesetz verschärfen.
- von
- ehs
Es ist morgens um 6.15 Uhr, als A.D. (27)* in seiner Wohnung im Kanton Zürich seine Arbeitskollegin vergewaltigt. Er ignoriert ihr Nein, ihre Schmerzen und ihre Tränen, setzt Gewalt ein und seine physische Überlegenheit. Dass sein Opfer Widerstand leistet, ist ihm egal. So steht es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Am vergangenen Mittwoch stand der 27-Jährige vor Gericht.
Fälle wie dieser sind dort Alltag. Letztes Jahr wurden 610 Fälle von Vergewaltigung registriert. 527 Personen wurden als Beschuldigte aufgeführt – so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr. Das zeigen Daten der Kriminalstatistik des Bundes. Die registrierten Delikte sind nur die Spitze des Eisbergs.
Wenige zeigen Vorfall an
In einer repräsentativen Umfrage des Forschungsinstituts GFS, die im Mai veröffentlicht wurde, gaben 31 Prozent der Befragten an, eine oder mehrere Frauen zu kennen, die vergewaltigt wurden. Jede achte Frau gab an, selbst Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen erlitten zu haben. Nur acht Prozent der Frauen, die sexuelle Gewalt erlebten, zeigten den Vorfall an.
Wie viele Frauen Opfer von sexueller Gewalt werden, zeigt auch die Opferhilfestatistik. Letztes Jahr wurden in der Schweiz 4'761 Opferberatungen im Zusammenhang mit Sexueller Nötigung oder Vergewaltigung durchgeführt – 12 Prozent mehr als im Vorjahr.
Jeder fünfte muss nicht ins Gefängnis
B.Y. (28)*, das Opfer von A.D., ging kurz nach der Vergewaltigung zur Polizei. Die durchsuchte das Haus des Täters, er wurde in Untersuchungshaft genommen. Zehn Monate nach der Tat wird ihm nun der Prozess gemacht. Y. gehört altersmässig zu jener Gruppe, die häufig als Vergewaltiger auffällt (siehe Box).
Im Jahr 2017 kam jeder fünfte Erwachsene, der wegen Vergewaltigung schuldig gesprochen wurde, mit einer bedingten Freiheitsstrafe davon und musste nicht ins Gefängnis. Solche Strafen sind meist mit einer Busse verbunden. Die Hälfte der Täter kassierte eine unbedingte Freiheitsstrafe, die durchschnittlich vier Jahre betrug. Weitere 28 Prozent der schuldig gesprochenen Vergewaltiger erhielten eine teilbedingte Freiheitsstrafe mit einer durchschnittlichen Dauer von zweieinhalb Jahren.
«Viele Fehlbeschuldigungen»
Dass schuldig gesprochene Vergewaltiger nicht ins Gefängnis müssen, hält SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler für untragbar. «Bei Vergewaltigung kann es keine bedingten Strafen geben», sagt sie. Diese gehörten abgeschafft. Eine Verschärfung der Strafen für Sexualdelikte sei angebracht. Allerdings müssten im Gegenzug auch die Strafen für Fehlbeschuldigungen erhöht werden, so Geissbühler. «Als Polizistin habe ich viele solche Fälle erlebt. Eine falsche Anschuldigung kann Existenzen ruinieren und muss ebenfalls härter bestraft werden.»
Die Gerichte wurden in den letzten Jahren bereits restriktiver, was die Verhängung von bedingten Strafen betrifft. Zwischen 2013 und 2017 wurden in 23 Prozent der Fälle bedingte Freiheitsstrafen gesprochen. In den fünf Jahren zuvor kamen 29 Prozent der Verurteilten mit einer bedingten Freiheitsstrafe davon. Allerdings werden Verurteilungen erst erfasst, wenn sie rechtskräftig sind. Dementsprechend ist der Vergleich nur eingeschränkt aussagekräftig.
Neue Definition
Dass Vergewaltiger mit einer Busse davonkommen, soll auch nach dem Willen des Bundesrats der Vergangenheit angehören. Er will das Mindeststrafmass für Vergewaltigung auf zwei Jahre Freiheitsstrafe verdoppeln. Bedingte Freiheitsstrafen würde es so nicht mehr geben. Die sind nur für Strafen bis maximal zwei Jahre vorgesehen. In Zukunft müssten Vergewaltiger mindestens sechs Monate hinter Gitter.
Zudem will der Bundesrat Vergewaltigung neu definieren. Neu sollen auch Männer Opfer werden können, und nicht nur die vaginale Penetration, sondern auch andere «beischlafsähnliche Handlungen», etwa erzwungene anale oder orale Penetration, sollen als Vergewaltigung gelten.
«Ein Nein reicht nicht»
Das sei zwar gut, doch auch mit der neuen Regelung hinke die Schweiz hinterher, sagt Alexandra Karle von Amnesty International. Denn Vergewaltigung setze auch mit der Neudefinition den Einsatz eines Nötigungsmittels wie physische Gewalt voraus, und das Opfer muss sich gewehrt haben oder begründen können, weshalb ihm Widerstand nicht möglich war.
«Selbst ein klares Nein reicht nicht aus, um eine Vergewaltigung zu begründen», sagt Karle. «Davon müssen wir wegkommen.» Einige Täter setzten ihre Opfer psychisch unter Druck. Wieder andere Opfer verfielen in eine Art Schockstarre und könnten keinen Widerstand leisten. «Dass das Gesetz diesen erwartet, schreckt viele Frauen davor ab, Anzeige zu erstatten», sagt Karle. «Sie machen sich Vorwürfe, weshalb sie sich nicht gewehrt haben.»
A.D., der mutmassliche Vergewaltiger aus dem Kanton Zürich, dürfte glimpflich davonkommen. Die Staatsanwaltschaft fordert eine bedingte Freiheitsstrafe von 24 Monaten. Ins Gefängnis müsste er damit nicht. Ein Urteil fällt in den nächsten Tagen. Für Opfer von Vergewaltigungen geht der Leidensweg deutlich länger. «Sie leiden massiv und über lange Zeit», schreibt der Bundesrat – «allenfalls ihr Leben lang».
So sieht das Täterprofil aus
Einen einheitlichen Tätertypus gibt es bei Vergewaltigungen nicht. Die Hälfte der Beschuldigten war letztes Jahr jünger als 30 Jahre alt, wie die Kriminalstatistik zeigt. Unter den 15- bis 29-Jährigen sind die Täter relativ gleichmässig über die Altersgruppen verteilt. Knapp 40 Prozent der letztes Jahr Beschuldigten waren Schweizer, bei der Hälfte handelte es sich um Ausländer, 9 Prozent der Beschuldigten kamen aus dem Asylbereich. Bei den Opfern hinterlassen Vergewaltigungen häufig lebenslange Spuren und Belastungsstörungen. Eine Studie aus den USA belegt, dass fast die Hälfte der Vergewaltigungsopfer eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt.