Kritik an Ventilklausel: «Jetzt kommen halt Griechen statt Polen»

Aktualisiert

Kritik an Ventilklausel«Jetzt kommen halt Griechen statt Polen»

Dass Justizministerin Sommaruga die Zuwanderung aus Osteuropa bremsen will, stösst in ihrer eigenen Partei auf Kritik. Auch FDP und SVP sind nicht glücklich mit dem Entscheid.

von
Simon Hehli
Ein polnischer Gastarbeiter bei der Melonen-Ernte im Aargau. In den nächsten Monaten dürfen weniger Osteuropäer kommen. Werden sie einfach durch Büezer aus dem Süden ersetzt?

Ein polnischer Gastarbeiter bei der Melonen-Ernte im Aargau. In den nächsten Monaten dürfen weniger Osteuropäer kommen. Werden sie einfach durch Büezer aus dem Süden ersetzt?

Der Bundesrat hat dem Druck der bürgerlichen Parteien nachgegeben und nutzt die Ventilklausel: Aus den acht betroffenen osteuropäischen Staaten (EU-8: Litauen, Estland, Lettland, Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Slowakei) dürfen in den nächsten zwölf Monaten nur noch rund 2000 Personen in die Schweiz einwandern – das sind etwa 5000 weniger als von Mai 2011 bis heute.

Auf den Beschluss, den Justizministerin Simonetta Sommaruga heute Mittwoch kommunizierte, reagiert deren Genosse Hans-Jürg Fehr konsterniert. Der SP-Aussenpolitiker spricht von einem problematischen Entscheid. «Wir bringen unnötigerweise die EU gegen uns auf.» Gerade zu den neuen EU-Ländern im Osten habe die Schweiz bisher gute Beziehungen gepflegt – und wäre auf deren Unterstützung bei den anstehenden Verhandlungen zum Steuerstreit oder zum Stromabkommen angewiesen gewesen. «Stattdessen schaffen wir uns neue Gegner.»

Tatsächlich haben Vertreter verschiedener osteuropäischer Staaten bereits angekündigt, die «Diskriminierung» nicht hinnehmen zu wollen. Auch die EU selbst ist mit der Anwendung der Ventilklausel auf die EU-8 nicht einverstanden, wie Sommaruga einräumte. Die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton reagierte am Nachmittag entsprechend mit «Bedauern» auf den Entscheid des Bundesrates. Das Abkommen erlaube es nicht, EU-Bürger unterschiedlich zu behandeln, mahnt die Britin. «Diese Massnahme ist weder wirtschaftlich durch die Situation auf dem Arbeitsmarkt gerechtfertigt, noch durch die Anzahl EU-Bürger, die um einen Aufenthalt in der Schweiz nachsuchen.»

Kommen nun einfach mehr Griechen?

Die «massive Stimmungsverschlechterung» ist in Fehrs Augen umso ärgerlicher, als die Bremswirkung der Ventilklausel nahe Null sei. Die Schweizer Arbeitgeber hätten ja einen Bedarf an den EU-Bürgern, sonst würden diese gar nicht erst in die Schweiz kommen. «Statt 4000 Polen oder Tschechen holen sie im nächsten Jahr nun halt 4000 zusätzliche Portugiesen, Spanier oder Griechen.» Klar ist: Für die Bürger der südeuropäischen Krisenstaaten bleibt die Schweiz ein attraktives Ziel.

Weniger negativ sieht die frühere SP-Fraktionschefin Ursula Wyss die Entwicklung. Wichtiger als die «rein symbolische» Ventilklausel ist für sie das Bekenntnis Sommarugas zu einer Verschärfung der flankierenden Massnahmen. Wyss zeigt sich optimistisch, dass der Bundesrat künftig konsequent gegen Dumpinglöhne vorgeht und auch die negativen Folgen der Zuwanderung abmildert – etwa indem dank gemeinnützigem Wohnungsbau wieder mehr bezahlbare Wohnungen entstehen.

«In einem Jahr wieder die gleiche Debatte»

Gar nicht zufrieden mit dem Bundesrat ist hingegen der designierte FDP-Präsident und Migrationsexperte Philipp Müller – und zwar weil die Ventilklausel nur für ein Jahr angewandt wird statt für zwei Jahre, wie das auch möglich gewesen wäre. «Das ist überhaupt nicht konsequent», nervt sich Müller. «Wir haben in diesem Jahr eine rekordhohe Einwanderung. Hat der Bundesrat denn das Gefühl, dass sich daran in den nächsten zwölf Monaten etwas ändern wird?!» Im April 2013 würden wir dann einfach wieder die genau gleiche Debatte haben wie heute. Da nützten auch all die Evaluationen nichts, die Sommaruga am Mittwoch in Aussicht gestellt hat.

Ohne Begeisterung reagiert auch SVP-Aussenpolitiker Christoph Mörgeli auf die Anwendung der Ventilklausel. Diese sei zwar nötig, aber nicht sonderlich wirkungsvoll: «Der Bundesrat macht das ja sowieso nur, weil es nicht weh tut, sonst hätte er sich nicht getraut.» Der Entscheid sei Symbolpolitik und letztlich auch das Eingestehen eines «grandiosen Scheiterns der bundesrätlichen Zuwanderungspolitik». Die Regierung habe vor den Abstimmungen zur Personenfreizügigkeit das Volk mit Falschprognosen zum Ausmass der Zuwanderung in die Irre geführt. Mörgeli pocht deshalb weiterhin auf eine Neuverhandlung der bilateralen Verträge – was seine Partei mit der Zuwanderungsinitiative zu erreichen hofft.

Ein Signal gegen innen und aussen

Der Solothurner CVP-Nationalrat Pirmin Bischof hatte den Bundesrat mehrfach aufgefordert, die Ventilklausel anzuwenden. Er zeigt sich denn gegenüber 20 Minuten Online auch befriedigt und spricht von einem absolut richtigen Entscheid. Er mache sich zwar keine Illusionen, dass der Schritt einen riesigen Effekt habe. «Aber es ist ein Signal, sowohl an die eigene Bevölkerung als auch an die EU, dass wir entschlossen sind, die Migrations-Autonomie aufrechtzuerhalten.»

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