Publiziert

«Norman Atlantic»Kapitän Giacomazzi – der angekratzte Held

Der Kapitän der brennenden Fähre «Norman Atlantic» ist Italiens neuer Held. Doch vielleicht sollte man Argilio Giacomazzi nicht zu früh feiern.

kmo
von
kmo
1 / 4
Argilio Giacomazzi, Kapitän der «Norman Atlantic», hat den Ruf der italienischen Schifffahrt wiederhergestellt. Der 62-Jährige informierte die Küstenwache stets korrekt und verliess als Letzter das brennende Schiff.

Argilio Giacomazzi, Kapitän der «Norman Atlantic», hat den Ruf der italienischen Schifffahrt wiederhergestellt. Der 62-Jährige informierte die Küstenwache stets korrekt und verliess als Letzter das brennende Schiff.

Twitter
Ganz anders als sein Berufskollege Francesco Schettino, dem wegen seines unprofessionellen Verhaltens beim Unglück der «Costa Concordia» zurzeit der Prozess gemacht wird.

Ganz anders als sein Berufskollege Francesco Schettino, dem wegen seines unprofessionellen Verhaltens beim Unglück der «Costa Concordia» zurzeit der Prozess gemacht wird.

Keystone/Maurizio Degl'innocenti
Giacomazzi wird am 30. Dezember 2014 zu seiner Frau Paola und seiner Tochter Giulia (Bild) nach La Spezia zurückkehren.

Giacomazzi wird am 30. Dezember 2014 zu seiner Frau Paola und seiner Tochter Giulia (Bild) nach La Spezia zurückkehren.

Screenshot Sky.it

Er zeigte aller Welt, wie man sich als Kapitän auf einem Schiff in einer Notlage verhält: Argilio Giacomazzi verliess die brennende «Norman Atlantic» als Letzter – nachdem er die Leitung über die Fähre ordnungsgemäss den italienischen Marine-Offizieren übergeben hatte.

Erst dann nahm der 62-Jährige mit seiner Familie Kontakt auf: «Mir geht es gut, macht euch keine Sorgen. Es ist überstanden, ich komme bald nach Hause», sagte er laut «La Nazione» am Telefon seiner Frau Paola. Am 30. Dezember wird er von seiner Frau Paola und seiner Tochter Giulia in La Spezia erwartet.

Ruf der italienischen Schifffahrt wiederhergestellt

Die Erleichterung in Italien war gross: Mit seinem Verhalten stellte Giacomazzi den Ruf der italienischen Seefahrer wieder her, den sein Berufskollege Francesco Schettino nach dem Unglück der «Costa Concordia» ruiniert hatte. Anders als «Kapitän Feigling» hatte Giacomazzi keine weibliche Begleitung bei sich auf der Brücke, er erteilte der Küstenwache korrekte Informationen über die Situation an Bord und er blieb bis zuletzt auf dem Schiff.

Zwar hatte auch Giacomazzi «Momente der Schwäche», wie der «Corriere della Sera» schreibt. Doch das sei verständlich auf einem brennenden Schiff mit der Verantwortung über 400 Passagiere und angesichts der Flammen, die sich immer mehr ausbreiteten. So überwogen die lobenden Worte – etwa von Verkehrsminister Maurizio Lupi, der Verteidigungsministerin Roberta Pinotti und dem Bürgermeister von La Spezia.

Schwere Vorwürfe von Geretteten

Und doch gibt es Kratzer am Bild des neuen Helden. Vor allem das Verhalten seiner Crew gab Anlass zu Vorwürfen. Mehrere Gerettete sagten, dass der Feueralarm viel zu spät losgegangen sei. An Bord habe das totale Chaos geherrscht, niemand wusste, wohin er sich wenden sollte, erzählte etwa ein Geretteter der griechischen «Madata». Die Menschen seien in Panik ins eiskalte Wasser gesprungen in der vergeblichen Hoffnung, ein Rettungsboot zu erreichen.

Die Crew sei nicht imstande gewesen, die Rettung zu koordinieren und Kindern, Alten und Frauen den Vorrang zu geben. «Es gab keine Warteschlange oder Ordnung. Es wurde kein Respekt vor Kindern gezeigt», erzählte eine andere Gerettete der Nachrichtenagentur AP. Die Anweisungen an die Passagiere kamen – wenn überhaupt – spät und unvollständig. Niemand habe die Menschen beruhigt. Im Gegenteil: Unter einigen Passagieren sei es sogar zu Schlägereien gekommen.

Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung

Die Staatsanwaltschaften in Bari und Lecce haben Ermittlungen aufgenommen – auch gegen den heldenhaften Kapitän. Der Vorwurf lautet auf fahrlässige Tötung. Sie untersuchen mehrere offene Fragen: War die Fähre überladen? Waren die Fahrzeuge korrekt fixiert? War die «Norman Atlantic» seetauglich? Und was ist mit den Dutzenden von nicht registrierten Passagieren? Diese Fragen wird auch Kapitän Giacomazzi beantworten müssen.

Deine Meinung