Kinderhandel in der Schweiz: «Kinder werden zum Stehlen gezwungen»

Aktualisiert

Kinderhandel in der Schweiz«Kinder werden zum Stehlen gezwungen»

Menschenhandel mit Kindern gibt es auch in der Schweiz. Nun soll ein Handbuch helfen, die Opfer zu erkennen.

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Der Kinderschutz Schweiz hat zusammen mit Partnern ein Handbuch zur Erkennung von Kinderhandel herausgegeben. Auch die Schweiz ist nämlich eines der Zielländer von Kinderhändlern. Zum Teil werden sie vom Ausland gezielt in die Schweiz gebracht, um hier zu betteln oder zu stehlen, wie die unten beschriebenen Fälle aus dem Handbuch zeigen.

Die zuständigen Stellen betrachten diese minderjährigen Kriminaltouristen aber oft nicht als Opfer (siehe Interview). Aber auch Minderjährige im Asylverfahren laufen Gefahr, ausgebeutet zu werden. In der Schweiz besteht darum Sensibilisierungsbedarf bei jenen Stellen, die mit möglichen Opfern in Berührung kommen. Das Handbuch soll nun Abhilfe schaffen.

Fall Lena:

Die 16-jährige Bulgarin Lena reiste im Sommer mit einem Jungen und einem Mädchen aus ihrem Heimatdorf in die Schweiz. Die Eltern hatten Lena vorgeschlagen, den Sommer hier zu verbringen. Sie könne bei Bekannten wohnen und Geld verdienen.

Die zwei Mädchen müssen an einem Bahnhof um Geld betteln – mindestens 50 Franken täglich. An guten Tagen dürfen sie 10 Franken behalten. Der Junge erhält eine Liste mit Artikeln, die er in Warenhäusern stehlen soll.

Lena wird von der Polizei angehalten und auf den Posten gebracht. Ihr «Onkel» holt sie wieder ab und sagt, man habe immer Probleme mit den Jugendlichen. Die Polizistin ist misstrauisch, weil sie Lena aber bei keiner Straftat erwischte, lässt sie sie ziehen. Nach drei Monaten kehrt ­Lena nach Bulgarien zurück.

Fall Ayala:

Nach dem Tod ihrer Eltern wurde Ayala (9) ihrem Onkel anvertraut. Dieser missbrauchte sie und nahm sie im Alter von 12 Jahren mit nach Frankreich. Dort stellte sie ein Asylgesuch und gab sich als volljährig aus. Damit sie die Reisekosten zurückzahlen konnte, wurde sie zur Prostitution gezwungen. Sie musste zweimal abtreiben. Mit 14 gelang ihr die Flucht.

Aus Angst vor den Erpressern begab sie sich in die Schweiz, wo sie erneut ein Asylgesuch stellte – diesmal unter ihrer wahren Identität. Zunächst wollte man sie wegen des Dublin-Abkommens wieder nach Frankreich überstellen. Doch Ayala wäre in dieselbe Stadt gekommen und Gefahr gelaufen, wieder in die Hände ihrer Peiniger zu geraten. Nun wird Ayalas Asylgesuch in der Schweiz behandelt.

Fall Anja:

Anja (16) wurde an der Schweizer Grenze in Begleitung mehrerer Frauen angehalten. Sie konnte sich nicht ausweisen und gab an, für Ferien in die Schweiz zu kommen. Die anderen Frauen wollten sich in der Schweiz prostituieren.

Nach Recherchen stellte sich heraus, dass Anja von einem Heim in Bulgarien als vermisst gemeldet war. Sie kam in eine Schutzunterkunft. In einem Telefonat fragte ihr Bruder, ob es in der Schweiz wieder so schlimm sei wie letztes Mal. Ihre Mutter wollte wissen, ob sie das Geld bekommen habe.

Die Betreuerin hatte ein ungutes Gefühl, doch Anja wollte nach Hause. Die angebotene Rückkehrhilfe lehnte sie ab. Seit ihrem Rückflug ist über ihren Verbleib nichts mehr bekannt.

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