«The party is over»Läutet die Weihnachtszeit Boris Johnsons Ende als Premier ein?
Über 200 Jahre lang wählte die Bevölkerung von North Shropshire einen Tory-Vertreter als ihren Abgeordneten – bis jetzt. Der Schock unter den Konservativen ist so gross wie die Skandale von Premier Boris Johnson zahlreich.
Darum gehts
Die Briten nehmen das meiste mit dem ihnen eigenen Humor, viele auch ihren Premier Boris Johnson. Jetzt aber ist fertig lustig. Johnson und seine Parteikollegen haben sich offenbar zu viele Skandale geleistet.
Zumindest legt dies eine Nachwahl im mittelenglischen Wahlkreis North Shropshire nahe. Die Region ist seit Jahrhunderten ein Kernland der Konservativen. Jetzt aber wird eine Liberaldemokratin den Kreis im britischen Parlament vertreten.
«Boris Johnson, the party is over»
«Boris Johnson, the party is over», meinte Helen Morgan am Freitag auf ihren Sieg über die Konservativen, der deutlich ausgefallen war.
Ausgelöst worden war die Nachwahl am Donnerstag durch den Rücktritt des wegen Korruption in die Kritik geratenen Abgeordneten Owen Paterson. Er hatte sein Mandat niedergelegt, nachdem Johnson und seine Getreuen vergeblich versucht hatten, ihn vor einer vorübergehenden Verbannung aus dem Parlament zu schützen.
Rebellion in den eigenen Reihen
Das Ergebnis aus North Shropshire löste Schockwellen in der Tory-Partei aus, die derzeit ohnehin mit ihrem von Skandalen umwitterten Regierungschef Boris Johnson hadert und das auch zeigt.
Am Dienstag stimmten knapp 100 Abgeordnete der eigenen Partei gegen eine – moderate – Verschärfung der Corona-Massnahmen im Land. Johnson war schmachvollerweise auf die Unterstützung der oppositionellen Labour-Partei angewiesen.
Weihnachtsparty und Zwickmühlen
Mit der Wahlschlappe in der Konservativen-Hochburg schliesst sich ein Kreis von Pleiten und Pannen: So kam heraus, dass Boris auf seinem Amtssitz wohl illegale Partys gegeben hatte, während das Land 2020 im Lockdown hockte.
Er stritt das ab, selbst als die Beweislage immer erdrückender wurde. Hinzu kamen neue Erkenntnisse über die fragwürdige Finanzierung des Luxus-Umbaus in Johnsons Dienstwohnung durch vermögende Spender. Umfragen zeigen, dass viele genervt sind von Boris Johnson und seinen Eskapaden.
Als wäre das nicht genug, schlittert das Land in die bisher grösste Infektionswelle seit Ausbruch der Corona-Pandemie hinein. Schon am Freitag wurde mit etwa 100’000 bestätigten Neuinfektionen gerechnet. Dabei steckt der Premier in der Zwickmühle: Führt er das Land in einen weiteren Lockdown, dürfte seine Partei auf die Barrikaden gehen. Doch tut er nichts, droht das Gesundheitssystem zu kollabieren.
Brexit-Rhetorik verfängt nicht mehr
Kommt hinzu, dass Johnson für harte Corona-Massnahmen zunehmend die Unterstützung der eigenen Partei fehlt und – angesichts immer neuer Berichte über Lockdown-Verstösse in der Regierung – auch die moralische Autorität.
In einem Interview am Freitag sagte Johnson, «natürlich» übernehme er persönliche Verantwortung für die Niederlage. Schuld sei aber eigentlich ein Fokus in den Medien und der Öffentlichkeit auf die falschen Themen.
Doch der Politikwissenschaftler Anand Menon vom King’s College in London sieht in der Shropshire-Niederlage mehr als nur einen Ausrutscher. Die Brexit-Rhetorik, mit der Johnson die vergangene Wahl gewonnen habe, funktioniere nicht mehr, glaubt der Experte.
«… dann ist Johnson faktisch nicht mehr Premierminister»
Für Johnson, so scheint es, wird es langsam wirklich eng. «Noch ein Streich und ich denke, es ist aus», drohte am Freitag Tory-Party-Veteran Roger Gale im Gespräch mit dem Nachrichtensender Sky News.
Diesen Zeitpunkt sieht Historiker und Politologe Anthony Glees bereits gekommen: Bevor das Wahlergebnis aus North Shropshire bekannt war, sagte er im «Spiegel»: «Wenn die Wähler sich hier aufgrund der jüngsten Ereignisse für eine andere Partei entscheiden, ist Johnson faktisch nicht mehr Premierminister. Die Tories sind da ruchlos. In dem Augenblick, in dem der Anführer nicht mehr führen kann, wird er abgeschafft.»
Nachfolgerfrage: «So viele unerfahrene Leute»
Wer unter den Tories als Johnson-Nachfolger in Frage kommen könnte, darauf legt sich Glees nicht fest: Vielmehr meint er: «Ich verfolge die britische Politik seit 50 Jahren und kann mich an keine Tory-Besetzung im Unterhaus erinnern, in der so viele unerfahrene Leute waren. Und in der sich die Mitglieder so weit vom Konzept der Vernunft entfernt haben.»
Es gebe zwar einige «zweifelsohne wichtige Personen», etwa Schatzkanzler Rishi Sunak oder Aussenministerin Liz Truss, aber grundsätzlich gelte: «Boris Johnson hat sein Kabinett vor allem nach Loyalität besetzt. Es wird schwierig werden, ein Kabinettsmitglied zu ernennen, eben weil sie ihm treu ergeben sind.»