Ägypten nach MubarakLahme Wirtschaft fordert die Muslimbrüder
Ein Jahr nach der ägyptischen Revolution verhandeln Militär und Islamisten hinter den Kulissen über eine Verfassung. Erste Priorität hat jedoch die Bewältigung der Wirtschaftskrise.
- von
- pbl

Warten auf Touristen in der Grabanlage von Sakkara: Der Fremdenverkehr ist seit der Revolution um mehr als 30 Prozent eingebrochen.
Am 25. Januar 2011 begannen in Kairo die Massenproteste gegen Präsident Hosni Mubarak. Weniger als drei Wochen später, am 11. Februar, wurde der Langzeit-Autokrat gestürzt. Der grenzenlose Jubel von damals ist längst verflogen. Zum ersten Jahrestag der Revolution wurde zwar gefeiert und auf dem Tahrir-Platz auch wieder demonstriert. Doch die grosse Mehrheit der Ägypter ist revolutionsmüde – sie sehnt sich nach Normalität.
Das betrifft besonders die wirtschaftliche Lage. Als Folge der Revolution sind die ausländischen Investitionen weitgehend zum Erliegen gekommen. Der Tourismus ist um mehr als 30 Prozent eingebrochen. Die Arbeitslosenquote beträgt offiziell 12 Prozent, doch unter den Jungen dürfte sie mindestens doppelt so hoch sein, schreibt die «New York Times». Vielen Ägyptern geht es nicht besser, sondern schlechter als vor der Revolution.
Widerstand gegen IWF aufgegeben
Das liegt auch an der Inflation, die sich im zweistelligen Bereich bewegen soll. Als Folge davon gerät das ägyptische Pfund unter Abwertungsdruck. Wirtschaftsexperten halten einen solchen Schritt für unvermeidlich, doch die Folge wären massiv höhere Preise für Lebensmittel und andere Güter – ein sicheres Rezept für soziale Unruhen in einem Land, in dem 40 Prozent der Bevölkerung mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen müssen. Gerüchte über Preiserhöhungen führten letzte Woche dazu, dass das Benzin knapp wurde.
Um die Abwertung der Währung zu verhindern, haben der Militärrat und die von ihm eingesetzte Übergangsregierung die ägyptischen Devisenreserven angezapft. Diese sind innerhalb eines Jahres von 36 auf 10 Milliarden Dollar gefallen – ein gefährlich tiefer Wert. Die Militärs haben deshalb ihren Widerstand gegen Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über einen Kredit von 3,2 Milliarden Dollar aufgegeben. Mehr noch: Die Regierung könnte laut «New York Times» einen «noch grösseren Kredit beantragen».
Selbst die Muslimbruderschaft, die bei der Parlamentswahl die Mehrheit der Sitze nur knapp verpasst hat, scheint offen zu sein für eine IWF-Unterstützung. Ihre Führer anerkennen, dass die Bewältigung der Wirtschaftskrise ein Lackmustest für ihre Regierungsfähigkeit sein wird. Pragmatismus ist angesagt, von Alkohol- und Bikiniverboten, die für den Tourismus verheerend wären, ist (vorerst) keine Rede mehr. Die islamischen Parteien hätten eingesehen, «wie wichtig diese Branche für die ägyptische Wirtschaft ist», sagte Tourismusminister Munir Fakhry Abdel Noor in einem Interview mit «Al Ahram».
Nicht islamischer als heute
Für eine pragmatische Haltung sprechen auch die Verhandlungen über die Eckpfeiler einer neuen Verfassung, die gemäss «New York Times» zwischen Muslimbrüdern und Militärs hinter den Kulissen stattfinden. Demnach soll die Übergangsregierung noch bis zu den Präsidentenwahlen im Juni an der Macht bleiben. Danach soll Ägypten ein Präsidialsystem nach französischem Vorbild erhalten. Die Justiz soll weiterhin auf der Scharia beruhen, aber nicht islamischer werden als heute, Religions- und Meinungsfreiheit sollen garantiert sein.
Dies dürfte kaum den Vorstellungen der ultrakonservativen Salafisten entsprechen, die bei der Parlamentswahl rund 25 Prozent der Stimmen erzielten. Liberale Ägypter und Menschenrechtler hingegen reagierten verhalten positiv, obwohl einige von ihnen das Fehlen einer öffentlichen Debatte über eine neue Verfassung beklagen. Der Militärrat habe die Ägypter «dieser historischen Gelegenheit beraubt», klagte Hossam Bahgat, Leiter der Ägyptischen Initiative für persönliche Rechte, gegenüber der «New York Times».
Experten sind optimistisch
Doch dies kümmert die wenigsten seiner Landsleute, sie haben andere Sorgen. «Unsere Priorität sind Wirtschaftsreformen. Wir müssen Stabilität schaffen und die Armut reduzieren», sagte Sobhi Saleh, ein führender Muslimbruder und Abgeordneter aus Alexandria, der «Los Angeles Times». Er verweist auf 60 Milliarden Pfund (rund neun Milliarden Franken) an unbezahlten Steuern von Geschäftsleuten, die mit der ehemaligen Regierung verbandelt waren, und auf mehr als 500 Milliarden aus Grundstücksgeschäften, die vom alten Regime zum «Freundschaftspreis» abgewickelt wurden: «Wir können diese einziehen.»
Auch unabhängige Wirtschaftsexperten zeigen sich optimistisch, dass Ägypten den Kollaps vermeiden kann und die Muslimbrüder die richtigen Schritte einleiten werden. Die Islamisten unterstützten die freie Marktwirtschaft, sagte Ahmed Galal, Direktor des Economic Research Forum in Kairo und ehemaliges Kadermitglied der Weltbank. Sie hätten die Notwendigkeit erkannt, das wuchernde Subventionswesen zu reformieren: «Diese Leute wollen Erfolg. Sie orientieren sich stärker an Ländern wie der Türkei als an Iran oder Afghanistan.»