Ulrich Tilgner«Langfristig hat der IS keine Chance»
Die IS-Kämpfer nähern sich Europa. Nahost-Experte Ulrich Tilgner über den Terror in Libyen und die Gefahren für den Westen.
- von
- C. Freigang
Die ägyptische Luftwaffe hat Stellungen des «Islamischen Staates» (IS) in Libyen bombardiert – als Reaktion auf die Ermordung ägyptischer Christen. Die Rache-Aktion zeigt: Der IS hält sich schon längst nicht mehr an die Grenzen seines selbstausgerufenen Kalifats. Mit den Landgewinnen in Libyen rückt der Terror näher an Europa.
Herr Tilgner, Libyen liegt eine Flugstunde von Europa entfernt. Wie gross ist die Gefahr für den Westen?
Sollte sich der IS in Libyen breitmachen, wäre das keine Bedrohung für Europa. Die Gefahr für den Westen geht von IS-Rückkehrern aus. Libyen stellt aber indirekt eine Gefahr dar, weil der IS im Osten des Landes Ausbildungslager betreibt. Dort werden auch Freiwillige aus Europa ausgebildet, bevor sie nach Syrien oder in den Irak geschleust werden.
Italien will 5000 Soldaten nach Libyen schicken. Warum?
Das sind italienische Sonderinteressen. Rom will mit einem Eingreifen die Flüchtlingsströme aus seiner alten Kolonie stoppen. Denn mit dem zunehmenden Chaos in Libyen steigt der Druck von Flüchtlingen, die nach Europa wollen. Ich glaube nicht, dass Europa vor dem Hintergrund der Ukraine- und der Griechenlandkrise in der Lage ist oder den politischen Willen hat, vermehrt gegen den IS vorzugehen.
Wie gross ist die Gefahr, dass der IS Libyen einnimmt?
Im Gegensatz zur Al Kaida geht es dem IS darum, Gebiete zu kontrollieren. Derzeit nutzt er das Machtvakuum in Libyen aus. Dieses entstand mit dem Bürgerkrieg, den die USA 2011 einleiteten. Dass sich die Terrormiliz in Libyen weiter ausbreitet, denke ich aber nicht.
Warum nicht?
Langfristig hat der IS keine Chance. Zum einen gerät er früher oder später in Konflikt mit der lokalen Bevölkerung, weil die Terroristen nicht die Ressourcen haben, um die Bedürfnisse der Menschen in den von ihnen beherrschten Gebieten zu erfüllen. Zum anderen würde der Westen – vor allem die USA – aus der Luft angreifen, sollte es dem IS in Libyen gelingen, Geldquellen zu erschliessen und zum Beispiel Ölexporte zu kontrollieren.
Werden die Amerikaner eingreifen?
Wenn sich der IS in Libyen etabliert, wird Amerika eingreifen. Sollte der Kongress Obama die entsprechenden Vollmachten erteilen, entsteht ein globaler Krieg gegen den IS. Dann müssten die USA überall eingreifen, wo der IS sich stabilisiert: im Irak, in Syrien, in Afghanistan, in Libyen und so weiter. Die Amerikaner sind aber derzeit zurückhaltend. Zumal ein solches militärisches Vorgehen dem IS auch wieder Aufwind bescheren könnte.
Wie das?
Sollten die Amerikaner mit Luftangriffen in Libyen eingreifen, wäre vor allem die Zivilbevölkerung betroffen. Und diese könnte sich als Reaktion dem IS anschliessen. Luftschläge haben bisher zu keiner wesentlichen Verschiebung der Kräfteverhältnisse geführt. Überall wo Einheiten des IS im Irak oder in Syrien zurückgedrängt wurden, haben Bodentruppen angegriffen.
War die Enthauptung von 21 ägyptischen Christen durch den IS in Libyen gegen Christen oder gegen Ägypten gerichtet?
Gegen beide. Gegen die Christen, weil der IS sie als Ungläubige sieht. Doch die Tat richtet sich auch gegen Ägypten. Das Land ist ein grosses Ziel für den IS, denn bereits jetzt hat die Terrorgruppe viele Unterstützer im Land. Mit dem zunehmenden Scheitern der ägyptische Militärregierung wird der IS auch dort stärker werden.
Wird Ägypten seine Angriffe auf den IS in Libyen verstärken?
Das entscheidet Saudi-Arabien. Die Regierung in Riad ist der Hauptfinancier des ägyptischen Militärs und sie ist gegen den IS. Ich halte dies aber eher für unrealistisch, weil den Saudis wegen des derzeit niedrigen Ölpreises Geld fehlt.

Ulrich Tilgner ist ein deutscher Journalist und war Auslandskorrespondent unter anderem auch für das Schweizer Fernsehen. Bekannt wurde er als Kriegsberichterstatter aus Bagdad.
Libyen: Ein Land im Bürgerkrieg
Seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes 2011 ringen in Libyen zahlreiche Gruppierungen um die Macht. 2014 eskalierte der Konflikt. Die rivalisierenden Milizen gruppierten sich um zwei verschiedene Regierungen, die seitdem einen neuen Bürgerkrieg austragen:
1. Die international anerkannte Regierung unter Abdullah Thenni. Sie residiert in Tobruk und kontrolliert einen Grossteil Ostlibyens. Zusammen mit den Streitkräften von Chalifa Hafter bilden sie die Allianz «Würde»
2. Die Gegenregierung unter Omar al-Hasi residiert in Tripolis und hat den Grossteil des westlichen Libyens unter Kontrolle. Sie bildet mit verschiedenen islamistischen Milizen die Allianz «Morgenröte».
Nach dem Auseinanderbrechen der Armee verfügt jedes Lager über einen Generalstab und Streitkräfte, in denen die Grenzen zwischen offiziellen Armeeeinheiten und Milizen verschwimmen. Beide Lager versuchen, die Kontrolle über den Staatsapparat und insbesondere die Zentralbank und Erdöl-Exporteinnahmen zu erringen.
Die Sicherheitslage im Bürgerkriegsland ist so bedrohlich, dass viele Länder - darunter die Schweiz - ihr diplomatisches Personal abzogen und ihre Bürgerinnen und Bürger zur Ausreise aufriefen.
(Quellen: SDA, Bundeszentrale für politische Bildung, Wikipedia)