Kampusch-Biografie, Teil 5«Lauf. Verdammt noch mal, lauf!»
Eine grosse Verzweiflung muss Natascha Kampusch am Tag ihrer Flucht aus den Fängen ihres Peinigers verspürt haben – endlich war sie frei. Doch keiner wollte ihr helfen.
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9. September 2010: Unter starken SIcherheitsvorkehrungen hat Natascha Kampusch am Donnerstagabend in Wien aus ihrer Autobiografie «3096 Tage» vorgelesen. (Bild: AP Photo/Leonhard Foeger)
Inzwischen sind acht Jahre und fünf Monate vergangen. Wolfgang Priklopil lässt Kampusch oft im Garten arbeiten – immer unter seiner Aufsicht. «Der Täter begleitete mich auf Schritt und Tritt. (…) Priklopil achtete penibel darauf, dass das Gartentor immer verschlossen war.» Doch an jenem 23. August 2006 geschieht es: Der Entführer wird unvorsichtig, er hat die junge Frau einen Moment lang aus den Augen gelassen.
«Zwischen dem Häuschen und dem Gartentor parkte der weisse Lieferwagen. Priklopil holte den Staubsauger und befahl mir, den Innenraum, die Sitzflächen und die Bodenmatten sorgfältig zu saugen. Ich war gerade mitten in der Arbeit, als sein Handy klingelte. Er machte einige Schritte vom Auto weg. Ins Gespräch vertieft, drehte er sich um und entfernte sich einige Meter Richtung Pool.»
Die Angst überwinden – das muss sie noch schaffen
Kampusch erkennt sofort die Gelegenheit. Darauf hat sie lange gewartet. In Auszügen aus ihrem Buch, die die «Bild»-Zeitung veröffentlicht, beschreibt Kampusch sehr minutiös die wenigen Sekunden, in denen sie starr vor Angst nicht weiss, was sie aus ihrer Chance machen soll. «Mein Brustkorb war wie von einem Eisenkorsett umschlossen. Ich konnte kaum atmen. Langsam sank meine Hand mit dem Staubsauger nach unten. Ungeordnete, wirre Bilder rasten durch meinen Kopf: Priklopil, wie er zurückkehrte und mich nicht vorfand. Wie er mich suchen und Amok laufen würde. Meine Mutter. Das Lächeln meiner Mutter.»
In voller Panik lässt sie den Staubsauger schliesslich fallen. «Lauf. Lauf. Verdammt noch mal, lauf!», hämmert es in ihrem Kopf. Sie stürzt zum Gartentor und zu ihrer grossen Überraschung ist es offen. Wohin nun? Links oder rechts? Ihr erster Gedanke: Sie muss Menschen finden. Kampusch entscheidet sich für eine Schrebergarten-Siedlung. Sie rennt los und sie weiss: Es gibt kein Zurück. Priklopil wird ihre Flucht schon bemerkt haben. «Ich war sicher, dass der Täter mit jeder Sekunde näher kam. Ich glaubte, seine Schritte zu hören, und fühlte seinen Blick auf meinem Rücken. Aber ich drehte mich nicht um.»
Angst und Misstrauen statt Hilfe
Als erstes trifft sie drei Menschen: «Ein alter Mann, ein Kind, vielleicht zwölf Jahre alt, und ein Dritter, vielleicht der Vater des Jungen.» Kampusch japst nach Luft: «Sie müssen mir helfen! Ich brauche ein Handy, um die Polizei zu rufen! Bitte!» Doch sie reagieren nicht auf ihre Bitte. «Das geht nicht», sagte der Ältere und die drei machen einen Bogen um sie. «Tränen schossen mir in die Augen. Ich stand zitternd auf dem Gehsteig. Wohin?»
«Ich zog mich über einen niedrigen Zaun in einen der Gärten und klingelte am Haus. Aber nichts rührte sich. Ich rannte weiter, stieg von einem Garten zum anderen. Endlich sah ich durch ein offenes Fenster eine ältere Frau. Ich klopfte gegen den Fensterrahmen und rief leise: ‚Bitte helfen Sie mir! Rufen Sie die Polizei! Ich bin ein Entführungsopfer!'» Wieder reagiert die Angesprochene mit Misstrauen. «Was machen Sie denn in meinem Garten? Was wollen Sie hier?»
Kampusch versucht erneut der Frau klarzumachen, dass sie dringend Hilfe benötigt. Erstmals in all den Jahren schafft sie es auch, ihren richtigen Namen auszusprechen: «Ich bin ein Entführungsopfer. Mein Name ist Natascha Kampusch.» Doch die ältere Frau ist offenbar mit dem Fall nicht vertraut – so lange ist es her, seit der letzte Bericht über ihr Verschwinden in den Zeitungen kam. «Warum kommen Sie damit ausgerechnet zu mir?», soll die Frau noch gesagt haben. «Doch dann sah ich, dass sie einen Moment zögerte.» Kampusch solle an der Hecke warten, befahl die Dame – und «nicht auf meinen Rasen treten».
Polizei behandelt sie wie eine Kriminelle
«Ich blieb an der Hecke stehen und wartete. Sekunde um Sekunde verging. Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich wusste, dass Wolfgang Priklopil mich suchen würde, und hatte panische Angst davor, dass er völlig durchdrehen würde.» Nach einigen Minuten kommt endlich die ersehnte Hilfe: Hinter den Zäunen der Schrebergartensiedlung fahren zwei Streifenwagen mit Blaulicht vor. Zwei junge Polizisten steigen aus und betreten den kleinen Garten. Nun war sie in Sicherheit.
Die Reaktion der Polizisten lässt sie aber erneut schaudern: «Bleiben Sie, wo Sie sind, und heben Sie die Arme!», sagte einer von ihnen. «So hatte ich mir meine erste Begegnung mit der neuen Freiheit nicht vorgestellt. Mit erhobenen Armen wie eine Verbrecherin an der Hecke stehend, erklärte ich der Polizei, wer ich war», schreibt Kampusch.
Auch nachdem sie ihren Namen angibt, ist die Reaktion nicht die erwartete. «'Kampusch?', antwortete einer der beiden Polizisten. ‚Geburtsdatum? Meldeadresse?'» Kampusch reisst sich zusammen und erklärt ihre Situation: «Ich wurde 1998 entführt und in einem Haus in der Heinestrasse 60 festgehalten. Der Täter heisst Wolfgang Priklopil.»