Alt-Bundesrichter«Leugnung von Genozid in Schweiz weiter strafbar»
Das EGMR-Urteil im Fall Perinçek stösst beim Ex-Bundesgerichtspräsident Giusep Nay auf Unverständnis. Leugnung von Genozid stehe in der Schweiz weiterhin unter Strafe.
- von
- sma

Die Schweiz hätte den türkischen Leugner des Völkermords an den Armeniern, Dogu Perinçek, nicht verurteilen dürfen.
Herr Nay*, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Fall des Völkermord-Leugners Dogu Perinçek entschieden, dass die Meinungsäusserungsfreiheit stärker zu gewichten ist als die Leugnung von Völkermord. Heisst das nun, dass man in der Schweiz Genozid offiziell leugnen darf?
Nein, im Gegenteil. Leugnung von Völkermord kann und soll in der Schweiz weiterhin strafbar bleiben. Das Urteil ist klar als Einzelfall zu betrachten. Für die Schweiz heisst dies, dass sie künftig in jedem Fall einzeln prüfen muss, ob entsprechende Äusserungen auf rassistischen Ideologien basieren, wie in den Fällen der Leugnung des Holocaust. Die Schweiz wird in allfällig künftigen Fällen der Leugnung des Völkermords an den Armeniern die Urheber bestrafen können, wenn damit zu Hass und Gewalt aufgerufen wird.
Warum wird die Leugnung des Holocausts vom EGMR verurteilt, während der Genozid an den Armeniern offenbar verneint werden darf?
Das ist genau das Problematische am Urteil. Der EGMR betrachtet Fälle der Leugnung des Holocausts regelmässig als Ausdruck antisemitischer und nationalsozialistischer Ideologien. Wenn man dies nun beim Genozid an den Armeniern nicht tut, werden die sich gegenwärtig entwickelnden, rassistischen Tendenzen im Konflikt zwischen Türken und Armeniern unterschätzt. Vielleicht sehen wir diese Tendenzen nicht in der Schweiz, doch der EGMR hätte über den Tellerrand schauen und auch andere europäische Länder betrachten müssen. Es erübrigt sich zu sagen, dass die Lage in der Türkei momentan wirklich brenzlig ist. Der EGMR hätte das strengere Urteil der Schweiz akzeptieren sollen, hier vorbeugend handeln müssen und nicht für Perinçek entscheiden dürfen.
Das Urteil fiel allerdings sehr knapp aus; offenbar war es auch unter den Richtern höchst umstritten.
Die Interessenabwägung zwischen Meinungsäusserungsfreiheit und Rassendiskriminierung ist eine äusserst diffizile Angelegenheit, bei der unterschiedliche Richter und Gerichte nun mal zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen können. Fakt ist, dass die Leugnung von Völkermord dann strafbar ist, wenn sie gegen die Menschenwürde verstösst, indem aus ideologischen Gründen zu Intoleranz, Hass und Gewalt aufgerufen wird. Der EGMR hat Perinçeks Aussagen nicht so gewertet. Deshalb sah es eine Einschränkung seiner Meinungsäusserungsfreiheit als nicht gerechtfertigt an.
Derweil äussern gewisse Exponenten bereits Kritik an der Anti-Rassismus-Strafnorm, im Parlament ist zudem ein Vorstoss der SVP-Fraktion hängig, der gar eine Abschaffung fordert. Was bedeutet das Urteil für die künftige Anwendung der Strafnorm?
Aus meiner Sicht bedarf es keinerlei grundsätzlicher Änderung in der Rechtsprechung, geschweige denn einer Abschaffung der Strafnorm, deren mehrere andere Tatbestände durch das Urteil so oder so nicht tangiert sind. Natürlich wäre es schöner, wenn wir die Strafnorm nicht bräuchten. Doch die Vergangenheit wie auch die Gegenwart zeigen uns leider, dass sie ein wichtiges Instrument des Menschenrechtsschutzes und eine entscheidende vorbeugende Massnahme gegen rassistische Tendenzen ist.
Wird das Bundesgericht sein Urteil nun revidieren müssen?
Perinçek wird sicherlich ein Revisionsgesuch einreichen. Dann wird das Bundesgericht sein Urteil gemäss Bundesgerichtsgesetz revidieren und das Obergericht Perinçek freisprechen müssen.
*Giusep Nay war von 1989 bis 2006 Richter am Schweizerischen Bundesgericht und von 2004 bis 2006 Bundesgerichtspräsident